Anzeige
Anzeige
Die Angst bleibt

Protestanten erinnern sich an 9/11-Anschlag auf das World Trade Center

Ground Zero, Porträts der beiden Männer
gettyimages/TCTomm & privat

Ein Pfarrer und ein Konditormeister erleben die Terroranschläge von 2001 in New York. Beide spüren immer noch die Folgen.

Als der American-Airlines Flug 11 am 9. September 2001 um 8.46 in den Nordturm des World Trade Centers (WTC) kracht, steht Pfarrer Sönke Schmidt-Lange vor einer Klasse. Religionsunterricht in der internationalen Schule in Whiteplains, einem Vorort von New York. Kurz darauf klopft es, der Direktor will ihn sprechen. Er unterrichtet ihn über den  Anschlag, von dem zu diesem Zeitpunkt niemand die Hintergründe kennt. Die beiden lassen alle Klassen in der Aula zusammenkommen, gemeinsam beten sie das Vaterunser.

Pfarrer Sönke Schmidt-Lange
privat

„Das war eine neue Relevanz“, erinnert sich Schmidt-Lange. Er war zu diesem Zeitpunkt Pfarrer der deutschsprachigen Evangelisch-lutherischen St. Pauls Gemeinde in New York. Dass der Direktor in dieser säkularisierten Welt ihn um Rat gefragt habe, sei nicht selbstverständlich gewesen. Da waren plötzlich Fragen nach dem Sinn und dem Warum, erzählt der heute 82-Jährige.

In den New-Yorker Kirchen nicht nur Raum für Gebete, sondern auch praktische Hilfe

Als er zu Hause war, versuchte er, Gemeindemitglieder in der City zu erreichen. Schmidt-Lange war 30 Kilometer von der Kirche im Stadtteil Chelsea entfernt und hatte keine Chance, dorthin zu kommen. Die Stadt war abgesperrt. Er fand schließlich Frauen und Männer, die sofort die Kirche öffneten. Es ging nicht nur um einen Raum der Zuflucht: „Wir haben in der ersten Woche ganz notwendige praktische Hilfe geleistet“, sagt der Seelsorger, der heute in der Nähe von Philadelphia lebt.

Deutsche Touristen, die in den Hotels rund um das World Trade Center gewohnt hatten, suchten eine Möglichkeit, mit ihren Angehörigen zu Hause Kontakt aufzunehmen. Die Telefondienste waren gesperrt, ihre Koffer waren in den Hotels, deren Zugang zunächst verschlossen war. „Wir haben Telefonnummern in Deutschland recherchiert, Plätze zum Schlafen gesucht und viel Kaffee gekocht.“

Die Kirche
Renate Haller
Die Kirche der deutschsprachigen Evangelisch-lutherischen St. Pauls Gemeinde in New York

Tagelang hing der 9/11-Anschlag in der Luft

In der evangelischen Gemeinde haben sich Gesprächsgruppen zusammengefunden, um das Erlebte zu verarbeiten. Das war nicht einfach, sagt der Pfarrer. Über der Stadt hing tagelang der Geruch von Verwesung, Besucher kamen und erzählten, sie hätten menschliche Überreste auf der Fensterbank oder in Blumentöpfen gefunden. 

Im Sonntagsgottesdienst am 16. September 2001 griff er die überall gestellte Frage auf:

Hat Gott uns verlassen?

Nein, sagte Schmidt-Lange in seiner Predigt. „Die Opfer von Ground Zero und die anderen bei diesem Anschlag Umgekommenen und Zerschlagenen sind nicht von Gott verlassen. Sie sind Gott bekannt. Gott ist bei den Verlorenen, den Vermissten, den unter den Trümmern Zerschundenen, bei uns Überlebenden, und auch bei den irregeleiteten Gewalttätern.“

„Ich habe versucht deutlich zu machen, dass wir in unserem Glauben auch mit so etwas fertig werden“, dass nicht Rassismus und Hass auf den Islam die Antwort sind, sagt er.

Sprache der Amrikaner verändert sich nach dem 11. September

Es habe dann zunächst vorsichtige und vermehrte Kontakte aus der Gemeinde heraus zu Muslimen gegeben, aber das sei nicht von Dauer gewesen. In der Gesellschaft habe er nach dem 11. September festgestellt, dass die Menschen sich oft mit persönlichen Segenswünschen verabschieden. Die Häufigkeit der Worte  „bless you“ seien ebenso eine Folge des Anschlags wie eine neue Betonung des Familienlebens. Ihm selbst sei klar geworden, dass jeder Abschied der letzte sein kann.

Panik nach dem Attentat in New York

Frederic Piepenburg
privat

Frederic Piepenburg stammt aus Uelzen in Niedersachsen und lebt seit mehr als 25 Jahren in New York, wo er zwei Konditoreien in der City hatte. Als die Flugzeuge 2001 das WTC zum Einsturz brachten, saß er bei seinem Zahnarzt auf dem Behandlungsstuhl.

„Ich konnte zum World Trade Center schauen.“

Zunächst habe er eine leichte Rauchentwicklung beobachtet und an Filmaufnahmen gedacht. Als später vor lauter Rauch nichts mehr zu sehen und schließlich der erste Turm weg war, sei er panisch nach Hause gerannt. Die Straßen waren voll mit rennenden Menschen.

Ich dachte, wir sind im Krieg.

Piepenburg gehört der St. Pauls Gemeinde seit 2014 an und ist heute Mitglied des Kirchenrats. Eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 20. Jahrestags des Terroranschlags sei in der St. Pauls Gemeinde nicht geplant. Die Gottesdienste finden wegen Corona noch immer digital statt. Er könne sich vorstellen „dass wir ein Gebet sprechen“.

Der Konditormeister und Koch hat in vielen Ländern der Erde gearbeitet, in Saudi-Arabien eine Torte für eine Prinzenhochzeit gebacken und ist heute noch für den Bonner „Senior Expert Service“ in aller Welt unterwegs. Die Angst begleitet ihn seit 2001: „Die sitzt mir immer noch in den Knochen.“