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Beziehungen

Als Christ:in polyamor leben: Ist das okay?

Am Stand vom Netzwerk polyamore Menschen und Kirche auf dem Kirchentag hing die Polyamorie Pride Flag
Jörn von Lutzau
Bedeutung der Polyamorie-Flagge: blau für offen und ehrlichen Umgang miteinander, rot für Liebe und Leidenschaft, schwarz für Solidarität mit Menschen, die sich nicht outen können, das Herz mit Unendlichkeitszeichen für Offenheit und Bedingungslosigkeit.

Wie passen polyamore Lebensweise und Glaube zusammen? Ein Netzwerk hilft dabei, diesen Fragen näher zu kommen.

Gefühle sind wunderbar und wir haben das Glück in einer Gesellschaft zu leben, in der viele Beziehungsmodelle möglich zu sein scheinen: Ich kann monogam leben, eine Freundschaft Plus haben oder als Single mit mir selbst glücklich sein.

Und doch gibt es in unserer Gesellschaft rund um Beziehungsfragen immer wieder auch Tabus. Eines davon betrifft polyamor lebende Menschen.

Was Polyamorie ist

Wenn Menschen mit mehr als einer Person zusammen sind, wird das als poly bezeichnet. Ganz wichtig: alle Personen wissen davon und sind damit einverstanden. Dabei gibt es verschiedene Konstellationen und Konzepte. Poly-Beziehungen können

  • zwischen Haupt- und Nebenpartner:innen unterscheiden
  • aus mehreren gleichberechtigten Partner:innen bestehen
  • individuelle Konstellationen haben

Da die Liebes- oder romantischen Beziehungen verschieden sind, gibt es unterschiedliche Benennungen wie beispielsweise Primär- und Sekundärbeziehung, offene Beziehung oder Polyfidelity. Nicht alles braucht ein Label.

Polyamor

„Poly“ bedeutet „viele“ und „amor“ steht für „Liebe“. Das Gegenstück wäre also „Mono-Amorie“, Monogamie bedeutet „Ein-Ehe“. Manche Menschen verwenden auch den Begriff „Nicht-Monogamie“.

Auf dem Kirchentag 2023 in Nürnberg habe ich zwei Frauen getroffen, die mit einer dritten zusammenleben. Sie haben sich selbst die Namen Alexandra und Sofia gegeben. Die beiden haben sich über ihr Engagement in der Kirche kennengelernt. Die dritte Person ist erst später zu der Beziehung dazugekommen. „Das hat sich über viele Jahre entwickelt“, erzählt die 36-jährige Alexandra. Die Freundschaft bestand schon seit mehr als 15 Jahren, seit 2017 haben die drei Frauen Tür an Tür gewohnt.

Doch dann wurde aus der Freundschaft zwischen Sofia und der dritten Person mehr. Das war etwa vor drei Jahren. „Ich war der Dreh- und Angelpunkt“, sagt sie. Mit der dritten Person konnte sie „über alles reden“. Plötzlich standen Eifersucht und das Gefühl von „Wegnehmen“ im Raum. Die drei mussten reden und haben geklärt „was jede von den anderen Personen möchte“. So wurde die lesbisch-monogame Beziehung geöffnet.

Was Polyamorie nicht ist

Polyamorie bedeutet nicht Fremdgehen.

Netzwerk polyamore Menschen und Kirche

Der ökumenische Verein NepoMuK will polyamoren Menschen mit christlichem Glauben vernetzen. Außerdem informiert er darüber, wie polyamore Lebensweisen zum Glauben passen. Der Abbau von Diskriminierung von polyamor Lebenden durch und in der Kirche gehört auch dazu.

Website Netzwerk polyamore Menschen und Kirche

Das Netzwerk polyamore Menschen und Kirche (NepoMuK) klärt auf, dass es um Absprachen innerhalb von Beziehungen geht. Dass diese gebrochen werden, kann ebenso in poly- wie in monogamen Beziehungen geschehen. Aber wenn vereinbart wurde, dass andere Menschen daten, küssen oder dort übernachten dazu gehören, dann ist das eben kein Betrug.

Auf dem Kirchentag berichten viele polyamor lebende Menschen von Ausgrenzungen innerhalb der Kirche. Deswegen will das Netzwerk darüber reden. Die Mitglieder haben verschiedene Geschlechter, sexuelle Orientierungen und Identitäten, manche leben poly, manche nicht.

„Wir haben Mitglieder von Berlin bis Wien“, sagt Leonie Groß-Usai. Sie gehört zu den Gründerinnen des Vereins und lebt selbst polyamor. Dass sie dazu steht, ist nicht selbstverständlich.

Leonie unterhält sich auf dem Kirchentag über polyamores Leben
Jörn von Lutzau
Leonie am Stand vom Netzwerk polyamore Menschen und Kirche beim Kirchentag in Nürnberg

Ihrem Outing ging ein langer Prozess voraus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni in Bonn und fühlt sich „jetzt safe. Meine Doktormutter weiß, dass ich poly bin. Sie spricht mir meine Wissenschaftlichkeit nicht ab“, betont Leonie. Das sei im wissenschaftlichen Kontext jedoch nicht selbstverständlich.

Florence ist ebenfalls im Vorstand von NepoMuK und setzt sich stark für queere Themen in der Kirche ein. Florence betont, dass das Bild einer romantischen Ehe ein modernes Konstrukt der vergangenen 200 Jahre ist, an dem manche Menschen in der Kirche festhalten.

Ehe als kirchliche Institution?

„Wir reiben uns in der Institution Kirche“, sagt Florence. Dabei würden „da Gespenster-Ängste hervorgeholt. Wenn wir auf Gespenster mit einer Taschenlampe draufleuchten, dann sind sie meistens nicht so groß“. Bereits bei den Diskussionen rund um die Öffnung für schwul-lesbische Ehen habe Florence die „Angst vor dem Bedeutungsverlust der Ehe“ beobachtet.

Dabei ist es Florence wichtig, behutsam mit den Menschen rund um dieses Thema umzugehen und ergänzt: „Aber es gibt auch Grenzen von behutsam.“ Die lägen dort, wo Menschen leiden. Die Ehe mit nur einer Person sei als Konstrukt nicht „gut an sich“. Denn die Struktur biete keinen Schutz vor Gewalt oder eine sichere Beziehung. Sie biete durchaus auch Raum für viel Schönes, das liege in der Hand der Menschen, die ihre Ehe gestalten.

Eifersucht in einer Dreier-Beziehung

Alexandra und Sofia kennen aus ihrer Dreier-Beziehung den Stellenwert von Kommunikation gut. „Wenn ich sage, ‚ich lasse andere Menschen rein‘, dann muss ich ja eine gewisse Offenheit haben“, sagt Sofia. Eifersucht sei manchmal schon ein Thema.

Alexandra betont: „Ich empfinde es als Bereicherung zusammenzuleben“. Sofia ergänzt: „Wenn wir gemeinsam drüber reden, dann löst sich das auch wieder auf.“

Ihre poly-Beziehung hat sich im Laufe der Zeit verändert. War es zu Beginn wichtig, möglichst vieles anzusprechen, gibt es nun auch Selbstverständlichkeiten, die auf dem Vertrauen beruhen, sich gegenseitig zu schützen, betonen die zwei.

Out auf dem Land

Sie würden sich auch als poly lebende Familie outen, allerdings möchte das die dritte Person nicht. Dennoch fühlen sich die beiden von ihrem Umfeld in ihrem Lebensentwurf angenommen. Sie leben in einer ländlichen Region und ihr Beziehungsmodell ist ein offenes Geheimnis. Alexandra und Sodia betonen, dass ihre Familien und das Umfeld auf alle Lebensentscheidungen bisher immer positiv reagiert hätten. Sie sind sich bewusst, dass nicht überall so ein behütetes Leben möglich ist.

Diskriminierungserfahrungen in der Kirche

Deswegen sind Leonie und Florence von NepoMuK auch sehr vorsichtig. „Es gibt Menschen, die massive Probleme bekommen, wenn sie geoutet werden“, sagt Leonie. Es gehe um einen sicheren Raum, in dem sich die Menschen beschützt fühlen können. Das sei in der katholischen, wie in der evangelischen Kirche gleichermaßen wichtig.

Auf dem evangelischen Kirchentag gibt es einige Bücher zu polyamorem Leben
Jörn von Lutzau

Literaturtipps Polyamorie & Sexualität

📖 Barinberg, Inna: Mehr ist mehr. Meine Erfahrungen mit Polyamorie. edition assemblage 2020.
📖 Barker, Meg-John; Scheele, Jules: Sexualität. Ein illustrierter Leitfaden. Unrast Verlag 2020.
📖 Barker, Meg-John: Rewriting the Rules. Taylor & Francis 2018.
📖 Easton, Dossie; Hardy, Janet W.: Schlampen mit Moral. mvgverlag 2020.
📖 Fern, Jessica: Polysecure. Attachment, Trauma and Consensual Nonmonogamy. Thorntree 2020.
📖 Hofmann, Imre; Zimmermann, Dominique: Die andere Beziehung. Schmetterling Verlag 2012.
📖 Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. HarperCollins 2021.
📖 Méritt, Laura (Hrsg.); Bührmann, Traude (Hrsg.); Schefzig, Nadja(Hrsg.): Mehr als eine Liebe: Polyamouröse Beziehungen. Orlanda 2005.
📖 Phoenix, Lola: The anxious person's guide to non-monogamy. Kingsley Publishers 2022.
📖 Raab, Michel; Schadler, Cornelia: Polyfantastisch? Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis. Unrast Verlag 2022.
📖 Schroedter, Thomas; Vetter, Christina: Polyamory. Eine Erinnerung. Schmetterling Verlag 2010.
📖 Winston, Dedeker; Lindgren, Jase; Sotelo Matlack, Emily: Multiamory: Essential Tools for Modern Relationships. Start Publishing 2023.

Deswegen setzen sie sich für Aufklärung und Sichtbarkeit ein. Leonies Ideal ist eine Kirche, in der alle „in Christus angenommen sind, wie wir sind“ und auch „egal, wie und wie viele ich liebe“.

Keine Segnung für polyamore Beziehungen?

Wenn Menschen der Segen von Kirche verweigert wird, wird Florence wütend. Darin liege ein Missverständnis: Segen bedeute nicht, etwas gutzuheißen. „Segen ist Gottes Geistkraft mit auf den Weg geben“, definiert Florence. Und viele Menschen bräuchten genau das. Der Wunsch an kirchliche Institutionen? Mehr Reflexion, denn „warum haben wir den Segen“?

„Wenn es ein polyamores Wesen gibt, dann Gott“, sagt Leonie. Sie wünscht sich, dass Kirche in Bezug auf Polyamorie ein treibender Faktor sei. Das müsse von zwei Seiten kommen: Einerseits seien die Basis und andererseits die Leitungsebene gefordert. Schließlich habe die Kirche auch mit Mitgliederverlust zu kämpfen. Ihr Ideal lädt die Menschen ein, Mitglied einer modernen Kirche zu werden und sich willkommen zu fühlen.

    Polyamor in der Kirche

    Auch Florence möchte nicht, dass sich Kirche von Ängsten treiben lässt, sondern auf eine Vision hinarbeitet. „Viele Gaben ein Geist“, ist die Vision von Kirche. Und dafür sei es wichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn die poly lebenden Menschen seien längst da. Floronce will auch nicht, dass Nicht-Monogamie die neue Norm wird, sondern wünscht sich nur ein deutliches Signal für Vielfalt und Diversität.

    Deswegen gehören zu den Aufgaben des Netzwerks polyamore Menschen und Kirche:

    • miteinander ins Gespräch kommen
    • poly lebenden Menschen einen sicheren Raum anzubieten
    • ein Netzwerk für polyamore Christ:innen sein
    • Ansprechpartner:in sein
    • Bildungsarbeit machen
    • Kircheninstitutionen beraten
    • polyamores Leben bekannt machen

    NepoMuK plant auch nach dem Kirchentag in Nürnberg möglichst viele Großveranstaltungen zu besuchen. Besonders im Fokus bleiben Kirchentage. Und wenn sie dürfen, sind sie auch beim nächsten Katholikentag 2024 in Erfurt vertreten.

    Erfahrungen mit alternativen Beziehungsmodellen?

    Mono, poly, offen? Monogamie ist das Modell, mit dem die meisten von uns groß geworden sind und das auch in vielen Filmen und Romanen als Ideal gilt. Die Studie einer Online-Partnerbörse ergibt: die exklusive Zweier-Beziehung ist nach wie vor der Wunsch. Laut statistischem Bundesamt scheitert aber 30 Prozent der monogamen Beziehungen.

    Konfliktpotenzial gibt es wohl immer, wenn Menschen Beziehungen führen. Welche Erfahrungen hast du gemacht? Schreib uns gerne eine Mail an redaktion(at)indeon.de oder diskutiere respektvoll auf unseren Social-Media-Kanälen:

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