Volkstrauertag

Die namenlosen Toten

Blumen an einem Kriegsgrab
Uwe Zucchi/Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
Kreuzgruppe auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Halbe/Brandenburg

In Massengräbern liegen unzählige namenlose Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Schüler geben den Toten ihren Namen zürück.

Von Florian Riesterer

Die 22 Schüler der Joachim-Schumann-Schule sind still. Das liegt an Wiebke Bathe und dem, was sie zu erzählen hat. Eben erklärt die Bildungsreferentin des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Zehntklässlern aus dem hessischen Babenhausen die Geschichte des Schullandheims Wegscheide oberhalb von Bad Orb.

Vom Schullandheim zum Gefangenenlager

Dokumente als Fenster in die Vergangenheit: Schülerinnen mit Volker Kaltschnee, pädagogischer Leiter im Schullandheim Wegscheide, das früher ein Kriegsgefangenenlager war.
Florian Riesterer
Dokumente als Fenster in die Vergangenheit: Schülerinnen mit Volker Kaltschnee, pädagogischer Leiter im Schullandheim Wegscheide, das früher ein Kriegsgefangenenlager war.

Mehr als 100 Jahre hat das Gelände, das als größtes Schullandheim Deutschlands gilt, inzwischen auf dem Buckel. 1914, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, entstehen die Baracken. Die Wegscheide ist als Teil eines Truppenübungsplatzes geplant, wird letztlich ein Militärlager, in dem Soldaten ausgebildet werden. Ab 1920 erholen sich dort Schüler.

Am 27. August 1939 beschlagnahmt die Wehrmacht die Baracken als Strafgefangenenlager, fortan dominieren Stacheldraht und Wachtürme das Bild. Gefangene aus mindestens sieben Nationen sind dort untergebracht und spiegeln den Kriegsverlauf wider.

Unwürdige Behandlung der Gefangenen

Erst kommen Polen, später Franzosen, Holländer und Belgier, ab 1941 russische Kriegsgefangene, Jugoslawen und schließlich Italiener. Zwischen 12 000 und 18 000 Gefangene fristen dort ihr Dasein, erzählt Bathe. Rund einen Kilometer südlich des Schullandheims sind etwa 1400 sowjetische Kriegsgefangene in Massengräbern beigesetzt. Steinkreuze markieren den Ort.

Nicht nur auf der Wegscheide, auch in anderen Lagern seien die sowjetischen Kriegsgefangenen entgegen der Genfer Konvention menschenunwürdig behandelt worden, was Nahrung und medizinische Versorgung betrifft, sagt Bathe.

Viele starben an Seuchen, etwa Tuberkulose oder an Unterversorgung.

Die Russen hatten die Genfer Konvention nicht unterzeichnet. „Das war für die Deutschen der Vorwand, die russischen Gefangenen so schlecht zu behandeln“, sagt Bathe. Wobei die Bezeichnung "russisch" nach heutigem Verständnis zu kurz greife. Unter den Gefangenen seien etliche Nationalitäten gewesen – von Ostukrainern über Kasachen bis hin zu Menschen aus Aserbaidschan. Anders als Gefangene westlicher Alliierten durften sowjetische Kriegsgefangene nicht in Kontakt mit der Zivilbevölkerung kommen. Statt in der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe wurden sie in Arbeitskommandos eingeteilt.

Erinnerungen an das Leid der Menschen

Eine Schülerinnen-Gruppe sitze an einem Tisch und fertig Tontafeln an.
Florian Riesterer
Arbeiten mit Projektleiterin Wiebke Bathe (stehend) an den Tontafeln: Schülerinnen aus Babenhausen.

Dem unwürdigen Behandeln „menschenunwerten Lebens“, wie es die Nationalsozialisten bezeichneten, will Bathe etwas entgegensetzen. „Wir schreiben eure Namen“, heißt das Projekt des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Bathe verteilt Zettel mit den Namen von Kriegsgefangenen auf den Tischen, die mithilfe von Personalkarten der Lager recherchiert wurden. Peinlich genau haben die Nationalsozialisten darauf Name, Arbeitseinsätze und Lazarettaufenthalte sowie die Unterbringung in anderen Lagern verzeichnet.

Nach Kriegsende gelangten viele dieser Akten in die Sowjetunion und wurden nach 1990 wieder zugänglich. Inzwischen gibt es Online-Datenbanken. Für die Wegscheide sind diese noch nicht vollständig aufgearbeitet. Deshalb geht es heute darum, 22 der rund 400 sowjetischen Kriegstoten auf dem Friedhof in Klein-Zimmern bei Darmstadt einen Namen zurückzugeben. Elf bis zwölf Stelen mit Tontafeln sollen dort an die Toten erinnern, die im nahen Lazarett des NS-Regimes zwischen 1941 und 1945 starben. „Fünf stehen schon dort“, sagt die Bildungsreferentin.

Gräbergesetz

Nach dem Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, dem sogenannten Gräbergesetz, haben unterschiedliche Gruppen Anrecht auf ein dauerhaftes Ruherecht in einer Kriegsgräberstätte. Neben deutschen und ausländischen Soldaten gehören dazu Zivilisten, die im Kriegsgeschehen umkamen, Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, Zwangsarbeiter, Strafgefangene, die Opfer von Vertreibung und Verschleppung wurden sowie die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in der DDR, also etwa Opfer an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Das Gesetz dient dazu, „für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wachzuhalten, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben“, so der Wortlaut.

Schüler schreiben Namen der Toten

Während die Schülerinnen und Schüler Vor- und Nachnamen der Männer sowie Geburts- und Sterbedaten in ihrer Handschrift auf Papiere mit eingezeichnetem Zeilenraster übertragen, wiegt Bathe große Tonstücke ab. Dann ist in der ehemaligen Gefangenenbaracke das Klatschen des rohen Tons auf den groben Holztischen zu hören. Die Realschüler kneten den Ton durch, pressen ihn in eine Form aus einem Brett mit Holzleisten und rollen ihn platt.

Anschließend legen sie das Papier darauf und stechen mit einem Pin durch das Papier kleine Löcher entlang des Namens und der Daten. „Russkij, Sergej, 25.09.1912 – 10.06.1942“ überträgt Kamran Punkt für Punkt auf sein Ton-Rechteck. Er hat die Geburts- und Sterbedaten extra noch ein zweites Mal größer geschrieben, der besseren Lesbarkeit wegen. „Früher hatten wir vorgedruckte Blätter. Aber so ist es persönlicher“, sagt Bathe. Eigentlich recherchierten die Schülerinnen und Schüler noch Details zu den einzelnen Schicksalen der Toten. „Das ist aber in der Kürze der Zeit nicht zu schaffen.“

Zwei Tage sei die Schülergruppe auf der Wegscheide, berichtet Lehrer Winfried Knebel. Eine andere Gruppe der Schule besuche zwei Tage die Kriegsgräberstätte Niederbronn-les-Bains im Elsass und das ehemalige Konzentrationslager Struthoff. Geplant sei ein Gottesdienst zum Volkstrauertag.

Volkstrauertag

Der Volkstrauertag findet jedes Jahr zwei Sonntage vor dem ersten Advent statt.  Er geht auf das Gedenken an die getöteten Soldaten im Ersten Weltkrieg zurück. Nach Kriegsende 1918 setze sich unter anderem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für das Gedenken an die gefallenen deutschen Soldaten ein. Die Motive dafür reichen von der Heldenverehrung bis zur Anteilnahme mit Angehörigen. Die NSDAP erklärt den Volkstrauertag im Jahr 1934 als "Heldengedenktag" zum gesetzlichen Feiertag. 1952 bekommt der Volkstrauertag den Status eines gesetzlichen Gedenktags, mit dem an alle Kriegstoten und Opfer von Gewaltherrschaft erinnert werden soll.

Früher habe eine Religionslehrerin der Schule sich um das Projekt gekümmert, auch die Sammlung für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge habe sie organisiert. Jetzt habe er als Gesellschaftskundelehrer das übernommen. In Vierer- und Fünfergruppen sammelten die Schüler Geld für den Volksbund. Letztes Jahr seien sie sogar für das Ergebnis ausgezeichnet worden.

Viele der toten Soldaten sind noch sehr jung

Inzwischen ist es deutlich stiller geworden. Die Schüler sind konzentriert. Theo arbeitet mit einem Messer Papierschnipsel weg, die auf seiner Tontafel hängen geblieben sind. Beim Brennen der Tafel könnten sie sonst Flecken hinterlassen. Auch seine Klassenkameradinnen und -kameraden bemühen sich.

Es ist schon ein komisches Gefühl, das für einen Toten zu machen. Ich will nichts falsch machen,

sagt einer der Schüler. Viele der Toten sind sehr jung, 20 oder vielleicht auch 21 Jahre alt. Auch Angelina arbeitet akribisch, sie ist in den letzten Zügen, betrachtet ihr Werk noch einmal genau und hält das Ergebnis dann mit ihrem Smartphone fest. Sie habe schon viel gehört zum Thema, sagt die Schülerin. Das, was den Menschen angetan worden sei, sei nur schwer zu ertragen, erklärt sie mit Blick auf die Schilderungen Bathes. Mit der Tontafel jetzt habe sie das Gefühl, dem Toten etwas zurückgeben zu können.

Immer noch Relikte im Wald zu finden

Schließlich müssen die Tontafeln noch gebrannt werden. Dass das bis zum Volkstrauertag gelingt, sei wenig realistisch, sagt Bathe. Sie hofft aber, dass die Tafeln mithilfe des Bauhofs zumindest bis Jahresende in Klein-Zimmern angebracht werden können. Nur eine Viertelstunde mit dem Auto ist es von hier bis zur Schule. Gelegenheit also für die Schüler, sich ihr Werk vor Ort anzusehen.

Später besucht noch Otto Böhlke vom Geschichtsverein Bad Orb die Schüler. Neben Briefen oder gemalten Bildern der Gefangenen aus dem Lager zeigt er Gegenstände, die immer noch in den Wäldern rund um das Schullandheim zu finden sind und das Leben im Strafgefangenenlager lebendig werden lassen. So etwa der aus einer aufgeschnittenen Feldflasche gefertigte Teller, den er erst dieses Jahr halb verwachsen im Boden entdeckt hat.

Volker Kaltschnee, pädagogischer Leiter auf der Wegscheide, schaut sich mit den Schülern die historischen Dokumente an, darunter auch einen alten Ahnenpass. „So einen hatte meine Uroma, den hat meine Mama aufgehoben“, sagt eine der Schülerinnen. Und auf einmal ist die Geschichte ganz nah.

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