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Corona

Bilanz der „Querdenker“

Nils Sandrisser
Kommentar von Nils Sandrisser

Die Durchschlagskraft der „Querdenken“-Bewegung lässt nach. Das ist gut, denn sie hat Schaden angerichtet.

Die Demonstrationen der „Querdenker“ ziehen derzeit bei weitem nicht mehr die großen Menschenmassen an wie noch im Herbst und Winter. Wahrscheinlich sind es vor allem die Rücknahmen der Corona-Einschränkungen, der Neustart des gesellschaftlichen Lebens, die ihnen den Wind aus den Segeln nehmen. Auf den Terrassen der Restaurants herrscht wieder Betrieb, der Urlaub steht vor der Tür. Diesmal vielleicht wirklich.

Drei Gründe für die aktuelle Schwäche der "Querdenker"

Für einen Abgesang auf die „Querdenker“ ist es zu früh. Niemand kann wissen, ob die Bewegung nicht noch einmal Fahrt aufnimmt, wenn die Inzidenzen wieder steigen. Aber eine erste Bilanz ist schon erlaubt.

  • Klar, die Maßnahmen haben unser aller Freiheit beschnitten. Mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz der Nazis haben viele „Querdenker“ das verglichen. Aber die Einschränkungen waren eben nur vorübergehend. Für so ein Ermächtigungsgesetz ist das doch eher ungewöhnlich, das scheint – erstens – derzeit auch vielen aus der Szene aufzugehen.
  • Zweitens scheint es einigen derzeit zu dämmern, dass sie auf eine Masche hereingefallen sein könnten. „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg warb für Spenden für seinen Kampf gegen die Corona-Einschränkungen. Was mit diesem Geld passiert, ist bislang völlig ungewiss.
  • Drittens wirkt langsam der Druck. Der Verfassungsschutz beobachtet die „Querdenker“ mittlerweile. Die Verschwörungsmythen, die sie häufig verbreiten, sind allzu oft eine Rutschbahn ins Radikale gewesen. Wer glaubt, fiese Mächte seien heimlich am Werk, sieht sich gerne mal zur Gewalt berechtigt. Das führte dann zu Angriffen auf Polizisten und Journalisten.

Gleichsetzung mit dem Leid der Juden

Gegen Radikale hat sich die Bewegung nie abgegrenzt, vor allem nach rechts war sie offen. Es ist bemerkenswert, wenn Leute, die sagen, dass Flüchtlinge aus Kriegsgebieten doch bitte dort bleiben solle, wo sie sind, es zugleich für unzumutbar halten, zum Schutz aller eine Maske zu tragen.

Wobei die „Querdenker“ ja nicht erst die bei ihnen mitmarschierenden Neonazis gebraucht hätten, um menschenfeindliche Ansichten herauszuwürgen. Sie setzten sich mit den Juden während der NS-Zeit gleich, indem sie gelbe Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ trugen. Sie verglichen sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank, weil sie ihre Geburtstage nicht richtig feiern konnten und wollten nicht einsehen, was daran denn antisemitisch sein sollte. Auch christlich gebundene Menschen waren bei den Protesten dabei. Als neuer Bonhoeffer hat sich aber – soweit bekannt – niemand öffentlich bezeichnet. Immerhin.

Die Politik ging zu zaghaft vor

Allerdings ist die „Querdenken“-Bewegung leider nicht ganz folgenlos verpufft. Das, was die Politik – besonders die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten – als Anti-Corona-Maßnahmen verkaufen wollte, nannte die Virologin Melanie Brinkmann eine „intellektuelle Beleidigung“, weil sie entweder unwirksam oder nicht entschlossen genug oder beides waren. Der Verdacht liegt hier nah, dass die Politik so zaghaft vorging, weil sie nicht Öl ins „Querdenker“-Feuer gießen wollte. Dabei ignorierte sie die Wissenschaft und setzte das Leben sowie die Gesundheit so vieler Menschen aufs Spiel.

So ähnlich lief es auch 1993 und zuletzt 2015, als der flüchtlingsfeindliche Mob auf den Straßen tobte. Als Reaktion verschärften die Bundestage jeweils das Asylrecht.

Auch offene Menschenfeindlichkeit kann Politik beeinflussen

Auf der Negativseite muss man also feststellen, dass offen menschenfeindliche Positionen eine Chance haben, Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Deren Protagonistinnen und Protagonisten müssen nur um sich schlagen und laut genug krakeelen. Auf der Positivseite steht die Erkenntnis, dass es nicht immer Polizei oder gar Militär braucht, um Revolten niederzuschlagen. Manchmal tut‘s auch schon die Öffnung der Biergärten.