Die Kurve der Corona-Inzidenz ist, verglichen mit den Höhepunkten im Februar und März, mittlerweile stark gesunken. Merkwürdig erscheint da nur, dass die Zahl der Toten nicht ebenso stark sank. Lange Zeit starben Tag für Tag zwischen 250 und 300 Menschen in Verbindung mit dem Sars-CoV-2-Virus. Und immer noch liegt der Sieben-Tage-Mittelwert bei knapp 150 täglichen Toten.
Des Rätsels Lösung ist leicht: Die Inzidenz trog. Während der Osterzeit meldeten die Gesundheitsämter weniger Fälle. Das heißt aber nicht, dass es weniger Fälle gab. Es wurde weniger getestet als noch zwei Monate zuvor. Seit Anfang April erhalten Ärztinnen und Ärzte keine Vergütung mehr für PCR-Abstriche. Die 3-G-Regel ist vielerorts entfallen, ebenso die Testpflicht in Schulen, in Hessen Anfang Mai.
Darstellung des #COVID19-Infektionsgeschehen an #Schulen: Vergleich schulstatistischer #Kultusministerkonferenz-Daten & #RKI-Meldedaten sowie Analyse der Auswirkungen (Quarantäne bzw. eingeschränkter Präsenzbetrieb).
— Robert Koch-Institut (@rki_de) April 29, 2022
Beitrag im #EpidBull 17/2022
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Wer nicht hinschaut, erkennt auch nichts. Die Zahl der positiven PCR-Tests sinkt, aber langsamer als die Zahl der Tests insgesamt. Das weist auf eine sehr große Dunkelziffer hin. Das Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik schätzt sie auf mehr als die Hälfte der Fälle. Aber der Friedhof spricht die Wahrheit aus. Und diese Zahlen sind unbestechlich.
Nach der ersten Corona-Welle vor zwei Jahren gab es Vorwürfe, die Kirche habe versagt. Sie habe die Menschen im Stich, sie alleine sterben lassen. Dieser Vorwurf war damals unfair, weil er außer Acht lässt, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger per Verordnung vielerorts Heime nicht betreten durften. Und diese Verordnungen hatten ja einen richtig guten Grund: Nähe kann den Tod mit sich bringen.
Nun allerdings versagen die Kirchen wirklich. Denn zu den täglichen Toten vernimmt man nichts aus den Kirchenleitungen. Ganz so, als sei dieser Zoll an Menschenleben eine Naturkatastrophe, gegen die man nichts tun könne.
Zur Erinnerung: Anfang April erklärte die Bundesregierung – im Besonderen: der Teil von ihr, der sich liberal nennt – die Pandemie zur Privatsache. Die Corona-Maßnahmen liefen fast vollständig aus. Man wolle den Menschen ihre Freiheit zurückgeben und setze auf Eigenverantwortung, hieß es.
Zu diesem Verständnis von Freiheit hätte Kirche übrigens jede Menge zu sagen. Das hatte Martin Luther besser drauf. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen und jedermann untertan“, schrieb er in seiner wegweisenden Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Das soll heißen: Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung und Rücksichtnahme.
Die Abschaffung der Corona-Maßnahmen ist eine Perversion von Freiheit.
Mit dieser Definition von Freiheit brachte Luther das spätere Verständnis von bürgerliche Freiheit bereits auf den Punkt. Aber Freiheit, wie sie viele der Menschen sehen, die dafür waren, die Anti-Corona-Maßnahmen abzuschaffen, ist ein grauenhaftes Missverständnis. Eine Perversion von Freiheit, in dem nur noch das Ich zählt, das Kein-Bock-mehr-auf-Masketragen, das Ich-will-mein-altes-Leben-zurück.
Ja, das wäre teuer geworden. Aber Himmelherrgott nochmal, die Frage „Geld oder Leben?“ ist doch aus zivilisatorischer Sicht längst beantwortet. Und nun beantwortet unsere Regierung diese Frage auf einmal ganz anders. Sie ließ unsere Alten, Vorerkrankten, Schwachen erbarmungslos sterben. Und die Kirchen schweigen dazu.
Kirche & Corona: Diesmal versagt sie wirklich