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Interview

Erdbeben in der Türkei: Menschen finden Trost im Glauben

Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe übergibt Hygieneboxen für Erdbebenopfer im Buyuk Dalyan Distrikt von Hatay.
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe übergibt Hygieneboxen für Erdbebenopfer im Buyuk Dalyan Distrikt von Hatay.

Nach dem Erdbeben in der Türkei sind die Menschen traumatisiert, berichtet Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe. Sie hilft vor Ort.

von Mareike Clausing

Du kannst dich bestimmt noch daran erinnern, wie Anfang Februar die Zahlen der Toten im Nordwesten Syriens und im Süden der Türkei immer wieder nach oben korrigiert wurden. 

Am 6. Februar erschütterten Erdbeben der Stärke 7.7 die Region. Laut der Nachrichtenagentur Reuters ist inzwischen von 50.313 Todesopfern die Rede, mehr als 115.000 Menschen sind verletzt. 

Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe übergibt Hygieneboxen
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel

Diakonie hilft in der Türkei: Bilge Menekse koordiniert nicht nur

Bilge Menekşe ist Programmkoordinatorin der Diakonie Katastrophenhilfe in der Türkei. Ich habe mit ihr darüber gesprochen, wie es den Menschen geht und was sie gerade besonders brauchen. 

Zur Person

Bilge Menekse (36) ist Programmkoordinatorin der Diakonie Katastrophenhilfe für die Türkei und arbeitet regulär im Regionalbüro in Amman in Jordanien. Derzeit befindet sie sich in Istanbul, um mit der Partnerorganisation Hayata Destek (Support to Life STL) die Nothilfe in der Türkei zu koordinieren. Menekse lebte von 2015 - 2018 in der anatolischen Stadt Gaziantep. 

Sie sagen: „Heute war ein guter Tag“. Was bedeutet das?

Bilge Menekşe: Wir hatten die Möglichkeit, viele Zeltlager zu besichtigen. Sowohl offizielle Zeltlager, die vom türkischen Katastrophenschutz verwaltet werden als auch inoffizielle Zeltlager, wobei das eher Siedlungen sind, die die Menschen selber aufgebaut haben.

Wasserkanister für die Erdbebenopfer

Es ist wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu sein. Heute hat der offizielle Partner in einem der offiziellen Zeltlager Wasserkanister verteilt und ich konnte aktiv mithelfen. 

Wie sieht ihr Arbeitstag aktuell aus?

Bilge Menekşe: In der Regel sind wir täglich so 12 bis 15 Stunden unterwegs. Morgens höre ich mir die Nachrichten an. Wenn es losgeht und auch zwischendurch schreibe ich eine Nachricht an meine Familie in Deutschland, meistens an meine Schwester, da versuche ich meine Mutter ein bisschen zu schonen. Abends, wenn ich dann wieder angekommen bin, gebe ich Bescheid, dass alles in Ordnung ist. 

Ansonsten achte ich darauf, dass ich meinen Rucksack immer bei mir habe, selbst im Hotel beim Schlafen achte ich darauf, dass er neben mir liegt. In dem Rucksack habe ich einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten, eine Wasserflasche, Kekse und Salzstangen, eine Powerbank und eine Pfeife. Die Pfeife ist für den Notfall gedacht, also falls ich doch unter den Trümmern liege und ein Zeichen geben muss.

Eine Pfeife für den Notfall, falls ich unter den Trümmern liege.

Konkrete Hilfe der Diakonie im Erdbebengebiet

Wie sieht die Hilfe der Diakonie vor Ort konkret aus?

Bilge Menekşe: Wir verfolgen bei der Hilfe immer einen komplementären Ansatz, das heißt, wir gehen im Vorfeld in die Zeltlager, sprechen dort mit der Verwaltung, um festzustellen, was noch benötigt wird. Also wir gehen koordiniert vor, um Dopplungen zu vermeiden, das ist ganz wichtig.

Straße zwischen Hausruine und Trümmerberg
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe geht über die Kurtulus Straße in Hatay.

Helfer:innen finden keine Lieferanten 

Was sind aktuell die größten Probleme vor Ort? 

Bilge Menekşe: Die Herausforderung, die jetzt besteht, ist, dass viele Lieferanten in der Region nicht liefern können. Wir bestellen Vieles aus dem Westen des Landes, also Istanbul und anderen Großstädten. Aber auch da ist die Nachfrage sehr groß. Es ist zum Teil schwierig, einen Lieferanten zu finden, der pünktlich liefert oder grundsätzlich die Materialien parat hat, die wir brauchen.

Späte Hilfe für ländliche Regionen 

In Hatay waren viele Akteure präsent, aber nicht in den abgelegenen Regionen. Als ich dort war, war es glaub ich schon Tag 14, und es gab immer noch Menschen, die kein Zelt hatten. Die haben seit 14 Tagen auf der Straße geschlafen. 

2 Frauen mit Wasserkanistern im Zeltlager
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Im Zeltlager Adiyaman verteilen Bilge Menekşe (rechts) und Helfende von STL Plastikkanister für Wasser.

Und man darf nicht vergessen: ein Zelt ist wichtig, aber damit allein ist ja der Bedarf noch nicht gedeckt. Die Menschen brauchen Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Wir hatten letzte Woche eben Hygienepakete verteilt, aber das sind ja auch Sachen, die konsumiert werden. Und ich habe den Eindruck, eben dadurch, dass das Ausmaß der Zerstörung so groß ist, muss dort noch mehr geholfen werden und koordinierter.

Menschen haben 14 Tage auf der Straße geschlafen.

Sachspenden liegen auf der Straße

Ich habe auch gesehen, dass manche Klamotten einfach auf der Straße liegen. Das liegt daran, dass vielleicht die LKW-Fahrer irgendwann nicht mehr weiterfahren wollten oder nicht mehr konnten und die Ware dann dort einfach abgeladen haben.

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Wie ist die Stimmung bei den Menschen?

Bilge Menekşe: in den offiziellen Zeltlagern haben die Menschen alle ein Zelt. Allerdings merkt man, dass alle eigentlich sehr stark traumatisiert sind, weil sie ja von heute auf morgen ihre Wohnungen, ihre Häuser verloren haben

3 Menschen vor einem Zelt
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Bilge Menekşe (links im Bild) und das STL-Team verteilt Wasserkanister an die Erdbeben-Opfer im Camp in Adiyaman.

Angespannte Stimmung in den Lagern

Hinzu kommt, dass die Geschlechterrollen gerade in dieser Region [Şanlıurfa] traditionell geregelt sind. Haushaltssachen werden in der Regel von Frauen übernommen und das ist insbesondere in diesem Fall eine Herausforderung für viele Frauen.

Es kommt ihnen ständig vor, als ob es beben würde.

Die starken Nachbeben machen es den Menschen außerdem noch schwerer, das Ganze zu verarbeiten. Sie haben Angst. Es kommt ihnen ständig vor, als ob es beben würde. Ich glaube es ist womöglich eh noch zu früh, um von einer Verarbeitung oder von dieser Phase zu sprechen.

Wirtschaftskrise in der Türkei befeuert Unzufriedenheit 

Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass eine gewisse Spannung in diesen Zeltlagern vorhanden ist. In dieser Region leben auch viele Geflüchtete, insbesondere aus Syrien oder dem Irak und seit ein paar Jahren auch aus Afghanistan. Und da hat man doch raushören können bei manchen Menschen, dass sie damit unzufrieden sind, jetzt gemeinsam in Zeltlagern zu wohnen.

Man sucht das schwarze Schaf.

Es heißt dann zwar immer, die Geflüchteten haben andere Lebensweisen, aus diesem Grund soll das Zusammenleben nicht passen, aber ich glaube das hat auch sehr viel mit der Betroffenheit gerade zu tun. Eigentlich akzeptieren die Menschen es, dass gerade alle in Not sind, aber dadurch sucht man sich auch so ein bisschen das schwarze Schaf, auf das man wütend sein kann. Und ich glaube dazu hat vor dem Erdbeben eigentlich auch schon die Wirtschaftskrise beigetragen. 

Wie verarbeiten Sie das Erlebte? 

Bilge Menekşe: Klar, das alles was wir hier sehen und erleben, ist Teil unserer beruflichen Tätigkeit. Es nimmt einen aber natürlich schon manchmal mit. In Hatay hatte mir ein Mann mitgeteilt, dass sein Bruder in der Straße hinter seinem Haus gewohnt hat. Sein eigenes Haus ist stark beschädigt und das Haus seines Bruders ist komplett eingestürzt. Er hat seinen Bruder die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden schreien gehört: „Hol mich hier raus! Hilf mir, bitte!“ Es ist ihm leider nicht gelungen.

Religion spielt in der Türkei große Rolle

Das war auch ein Punkt, wo man nicht weiß, wie man die Person trösten kann. Klar, man ist dort, man möchte die Hilfspakete übergeben, aber man weiß innerlich, dass das jetzt die Wunde dieses Menschen nicht geheilt hat.

2 Frauen stehen vor dem zerstörten Galeria-Gebäude in Diyarbakir
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe und ihre Kollegin Pelin Bingöl von STL

Ich selber habe den „Vorteil“, dass ich mich mit meinen Arbeitskolleg:innen darüber austauschen kann. Aber nichtsdestotrotz bin ich eigentlich sehr froh hier zu sein, weil ich merke, wie wichtig unsere Arbeit hier ist, dass wir hier gerade alle gebraucht werden. Und das gibt mir auch weiterhin Kraft und die Motivation weiterzumachen.

Was mir noch Hoffnung und Kraft gibt: In dieser Region des Landes spielt Religion eine sehr große Rolle. Ich finde es immer sehr berührend, wenn Menschen dann ihren Dank aussprechen und Gottes Segen wünschen. 

Diakonie Katastrophenhilfe

Die Diakonie Katastrophenhilfe ist das humanitäre Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Seit 1954 unterstützt die Organisation mit Sitz in Berlin Menschen, die Opfer von Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung geworden sind.

Welche seelische Unterstützung gibt es für die Menschen? 

Bilge Menekşe: Viele Behörden, wie die Gesundheitsbehörde, haben ihre eigenen Zelte mit Ärzten. Auch Sozialarbeiter und die Religionsbehörde haben ihr eigenes Zelt, wo dann auch ein Imam als Religionsführer dabei ist und sich mit den Menschen unterhält. Es ist sehr wichtig, dass psychosoziale Dienste zur Verfügung gestellt werden, damit die Menschen in dieser Phase nicht allein gelassen werden.

Kinder müssen wieder zur Schule gehen können.

Welche Hilfe wird weiterhin benötigt?

Bilge Menekşe von der Diakonie Katastrophenhilfe übergibt Hygieneboxen für Erdbebenopfer im Buyuk Dalyan Distrikt von Hatay
Diakonie Katastrophenhilfe/Kerem Uzel
Hygieneboxen für Erdbebenopfer im Buyuk Dalyan Distrikt von Hatay

Bilge Menekşe: Also ich glaube im ersten Schritt müssten diese Basisbedarfe wie Nahrungsmittel und Sanitäranlagen, also das, was man zum täglichen Leben braucht, sichergestellt werden. Im Moment sind auch immer noch lebensrettende Maßnahmen wichtig. Mittel- und langfristig müsste man schauen, dass die Menschen aus den Zelten geholt werden.

Menschen brauchen wieder Privatsphäre 

Die Katastrophenschutzbehörde hat jetzt auch angefangen, Containerlager aufzubauen, aber selbst die werden weiterhin überfüllt bleiben. Die Menschen brauchen wieder Privatsphäre, ein Dach über dem Kopf, hygienische Umstände. Kinder müssen wieder zur Schule gehen können.

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Stichwort: Erdbebenhilfe Türkei Syrien