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Erinnerungskultur

Dort tanzen, wo einst deportiert wurde

Platz vor der EZB: Tanztreff oder Gedenkstätte?
Angela Wolf & gettyimages/Happycity21

Salsa-Fans tanzen im Frankfurter Ostend auf einer Gedenkstätte für Juden und sorgen damit für Diskussion.

Orte des Gedenkens im öffentlichen Raum sind immer auch Orte von Kontroverse. Nahe der Europäischen Zentralbank (EZB) auf dem Philipp-Holzmann-Weg treffen sich regelmäßig Menschen, die zu lateinamerikanischen Klängen tanzen. Sie legen dort die flotte Sohle auf historischen Beton.

Debatte in Frankfurt um Tanztreff vor der EZB

Blick auf die Europäische Zentralbank
Angela Wolf
Mitten im Frankfurter Ostend steht die EZB.

An diesem Freitagabend bleibt es an der Frankfurter Großmarkthalle, unweit des Hafenparks, verhältnismäßig ruhig. Ein paar wenige Spaziergängerinnen, Jungs auf E-Scootern, Teens auf Skateboards. Stolz stehlt die EZB in der Abendsonne und zaubert die Kulisse einer prosperierenden Metropole.

Ein perfekter Spot. Treffpunkt für laue Sommerabende, zum Verweilen, um Sport zu treiben, um zu Tanzen. Seit gut zwei Jahren kommen am Wochenende hier bis zu 500 Tänzerinnen und Tänzer zusammen, um sich dem Salsa, Merengue oder Mambo hinzugeben. Der Boden, glatte Betonplatten, ist perfekt, keine Anwohner, die sich gestört fühlen, bei Regen dient das ehemalige Stellwerk der Großmarkthalle der Überdachung.

Tänzer:innen aus ganz Deutschland kommen nach Frankfurt

„Tanzen ist ein Lebensgefühl. Gerade jetzt, in Pandemiezeiten, brauchen wir einen Ort wie diesen.“ Die Frau kommt eigens aus dem Vordertaunus angeradelt und schaut sich suchend um. Sonst tummeln sich hier um diese Uhrzeit Tanzfreunde aus Frankfurt, Darmstadt, Kassel, Bonn und Stuttgart. Ein DJ sollte bereits die Musikanlage arrangieren. An diesem Abend aber bleibt es still. Noch vier, fünf weitere Latindancer kommen dazu.

Bis auf weiteres keine Tanzveranstaltungen an jüdischer Gedenkstätte

Sie alle hat die Nachricht nicht erreicht, dass die Organisatoren bis auf weiteres die Tanzveranstaltungen auf dem Erinnerungsort für deportierte Frankfurter Jüdinnen und Juden nahe der ehemaligen Großmarkthalle aussetzen wird. In einem Gespräch mit dem Kulturdezernat, das den Kontakt und das Gespräch suchte, sicherten die Organisatoren zu „bis auf weiteres nicht mehr zu Tanzveranstaltungen auf dem Gelände der Erinnerungsstätte einzuladen.“ Dies bestätigt die Dezernentin für Kultur und Wissenschaft, Ina Hartwig.

Respekt vor den deportierten und ermordeten Menschen

Über die Gedenkstätte

Die ehemalige Frankfurter Großmarkthalle war 1941 in nur wenigen Monaten für etwa 11.000 Frankfurterinnen und Frankfurter als Juden Verfolgte der Ort, von dem aus man sie in den Tod abtransportierte.

Im Keller der ehemaligen Großmarkthalle, heute der nicht öffentliche Teil der Gedenkstätte in der EZB, wurden diese Menschen eingepfercht, entkleidet und ausgeraubt. Zu normalem Marktbetrieb trieb man die Frauen, Männer und Kinder im Anschluss auf das der Halle vorgelagerten Gleisfeld, wo die Waggons der Deutschen Reichsbahn bereitstanden. Fahrtziel: Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager in Minsk, Lodsch, Sobibor, Theresienstadt.

Gleisfragmente und weiterführende Andeutungen von diesen zeigen die hellen Bettonplatten noch heute. Sie sind ein dezenter Hinweis auf dieses Verbrechen. Auch Zitate von Überlebenden und Zeitzeugen, über die man auf dem Weg in Richtung Main unweigerlich spaziert, sind Teil des öffentlichen Erinnerungsortes.

Infos zu der Gedenkstätte vom Jüdischen Museum Frankfurt

Schon mehrfach kam es in der Vergangenheit zu Beschwerden und Missmut gegenüber den Menschen, die den öffentlichen Teil der Gedenkstätte ohne Würde und ohne Respekt behandeln. Pietätlosigkeit wurde der Tanzgruppe bescheinigt. Die Jüdische Gemeinde Frankfurt etwa oder der Bürgermeister Uwe Becker zeigen sich verständnislos. „Wer hier bisher aus Unachtsamkeit, Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit fröhlich das Tanzbein geschwungen hat, sollte im Respekt vor den Deportierten und Ermordeten schon von sich aus einen anderen Ort wählen“, sagt Bürgermeister Becker.

Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde Leo Latasch setzt die Tanzparty am Philipp-Holzmann-Weg mit solchen gleich, die vor dem Frankfurter Hauptfriedhof stattfinden würden.

Gedenkstätte nicht offensichtlich erkennbar

Der Hobbytänzerin aus dem Vordertaunus, die namentlich nicht genannt werden möchte, ist die Gedenkstätte bisher nicht aufgefallen. Auch jetzt kann sie die Vorwürfe nicht nachvollziehen: „Tanzen ist Integration und Lebensbejahung. Hier kommen alle gesellschaftlichen Schichten ohne Vorurteile zusammen. Ich weiß auch von Israelis, die hier mittanzen.“

Sie kann sich keinen besseren Ort vorstellen und vermutet hinter der aktuelle Debatte mehr: „Wir tanzen jetzt schon so lange hier. Ausgerechnet jetzt, wo die Maßnahmen gegen Corona wieder anziehen, sollen wir von hier verjagt werden. Und dann wird die Gedenkstätten-Karte gezückt.“ Ihre Mitstreiterinnen stimmen ihr zu. „Wir bewegen uns im öffentlichen Raum, der nicht offensichtlich als Gedenkstätte erkennbar ist.“

Gedenkstätte für Frankfurter deportierte Juden
Angela Wolf
Auf dem EZB-Gelände und der ehemaligen Großmarkthalle liegt die Gedenkstätte für die deportierten Menschen. Dort war damals die Sammelstelle für die Juden und Jüdinnen.

Tanzen ist Integration und Lebensbejahung

Theresa Gehring vom Jüdischen Museum Frankfurt kann den Unmut der Tänzerinnen und Tänzer durchaus verstehen. Dennoch: „Als die Gedenk- und Erinnerungsstätte an und in der ehemaligen Großmarkthalle geplant und umgesetzt wurde, war es konkrete Absicht, den Teil im öffentlichen Raum dezent und unaufdringlich zu gestalten.“

Das bedeute allerdings nicht, diesem Ort ohne Respekt und Würde begegnen zu können. „Ganz im Gegenteil soll er Teil des Alltags und Teil unserer Erinnerungskultur sein“, sagt Gehring.

Holocaust-Gedenkstätten immer wieder Auslöser von Kontroverse

Klar war auch, so Gehring, dass Kontroversen, so wie das aktuelle Beispiel, nicht ausbleiben werden. Exemplarisch hierfür steht das Berliner Holocaust-Mahnmal. Auf und um die 2.711 Stelen wird Yoga praktiziert, Selfies geschossen, Fangen gespielt.

„Diese Situationen schaffen aber auch Dialog. In Berlin und jetzt auch in Frankfurt. Wir stellen dabei immer die Frage, wie wir erinnern wollen. Und das ist gut so“, findet Gehring

Runder Tisch soll Ärger um Salsa-Treff beenden

Sie hat die Veranstalter der Latin-Tanz-Abende am Hafenpark an das Kulturdezernat vermittelt. Stadträtin Hartwig lädt zu einem Runden Tisch. Gemeinsam mit anderen beteiligten Ämtern und den Initiatoren des Freilufttanzens soll ein alternativer Ort im Stadtgebiet gefunden werden.

Hartwig stellt klar, dass der bisherige Ort nicht zur Debatte steht: „Tanzveranstaltungen, wie sie in den letzten Wochen auf dem Gelände der Erinnerungsstätte stattgefunden haben, sind mit der Würde des Ortes nicht vereinbar, ebenso wenig mit dem Respekt vor den Opfern der ersten Massendeportationen aus Frankfurt, derer hier gedacht wird.“

Debatte über Nutzung des öffentlichen Raums

Sie ergänzt: „Gleichzeitig ist es essentiell, den Menschen in der Stadt die Möglichkeit zu geben, den öffentlichen Raum ohne Konsumverpflichtungen zu nutzen und individuell anzueignen – gerade nach den Einschränkungen, die die Pandemiesituation in den vergangenen Monaten bedeutete.“

Daher sind das Kulturamt, die Organisatoren und beteiligten städtischen Ämter auf der Suche nach geeigneten alternativen Räumen in der Stadtlandschaft. „Wir haben bereits Kontakt zu einem der Organisatoren aufgenommen, der sich für dieses Angebot offen gezeigt hat“, sagt Hartwig.

Am Philipp-Holzmann-Weg verklingen die südamerikanischen Klänge und die Tanzschuhe werden weggepackt. Der Erinnerungsort hält wieder Einzug in alltägliches Treiben. Menschen, die auf dem Weg zum Main an einem Zitat inne halten, um dann in Gedanken weiterzuschlendern.