Reisebericht

Ein Besuch im Kosovo

Nico mit seiner Freundin im Kosovo
privat

Vor mehr als 20 Jahren erschütterte ein Krieg das kleine Land Kosovo auf dem Balkan. Die Auswirkungen sind auch heute noch zu spüren. Ein Reisebericht.

von Nico Terhorst

Am Tag unserer Ankunft in der Republik Kosovo ist der Himmel grau und bewölkt. Es nieselt leicht. Die Luft schmeckt anders als in Deutschland. Irgendwie rauchiger. Sie erinnert an eine Silvesternacht, wenn der Geruch von Böllern und Raketen in der Luft liegt. Die beiden Kohlekraftwerke des Landes belasten mit veralteter Technik die Umwelt massiv.

Wir sind im Kosovo, dem kleinsten Land Südosteuropas.

Wo die Republik Kosovo in Europa liegt
canva/zbruch;natanaelginting

6 Tage im Kosovo

Während meines sechstägigen Aufenthalts möchte ich das Land kennenlernen. Bisher habe ich viele Geschichten durch meine Freundin und ihre Familie gehört, die ursprünglich von hier kommen.

Aussicht auf ein Dorf im Kosovo
gettyimages/HB-photo BRENOLI

Doch wie sieht der Alltag der Menschen aus in einem Land, in dem die Auswirkungen des Kosovokriegs von 1999 auch heute noch zu spüren sind? Meine Freundin und ihre Familie, die ihre Wurzeln in Mitrovica haben, der nördlichsten Stadt des Kosovo, begleiten mich.

Während der Fahrt nach Mitrovica fällt schnell eine Besonderheit auf: Viele Häuser sind nicht verputzt. Überall nackte Bauziegel. Der Bau eines Hauses ist für viele Familien so teuer, dass kein Geld für den Verputz übrig ist.

Die Stadt Mitrovica im Kosovo
gettyimages/Luca Prestia

Nach 45 Minuten Fahrt vom Flughafen der Hauptstadt Pristina erreichen wir Mitrovica. Die Stadt hat rund 70.000 Einwohner.

Der erste Eindruck: „Das sind ganz schön viele Autos für so eine kleine Stadt, und gehupt wird auch ganz schön häufig.” Ich erfahre, dass Mitrovica keinen öffentlichen Nahverkehr hat, die Menschen sind auf Autos angewiesen. Dementsprechend voll sind die viel zu engen Straßen. Mit einem Mietwagen reihen wir uns ein.

Während wir die Hauptstraße hochschleichen, bemerke ich ein Banner zwischen den vielen Stromkabeln.

Mirë se vini MËRGIMTARË

Steht dort geschrieben. Meine Freundin übersetzt: „Willkommen, HEIMKEHRER”.

Kosovo-Konflikt

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) informiert, dass die Zugehörigkeit Kosovos umstritten ist. Involviert sind Serbien, Albanien und Jugoslawien. Es gibt im Kosovo eine lange Tradition politischer Unabhängigkeitsbestrebungen. Unabhängig ist der Staat erst seit 2008, aber nicht alle Staaten haben das anerkannt. 

Informationen der bpb zum Kosovo

 

Um das zu verstehen, muss man in die Geschichte des Landes zurückblicken. In den 1970er Jahren gingen viele Männer als Gastarbeiter nach Deutschland und schickten ihre Löhne an die Familien. Manche konnten ihre Angehörigen auch später nachholen.

Während des Kosovokrieges 1998/1999 flohen viele Menschen in europäische Staaten, auch nach Deutschland. Heute lebt in Deutschland die größte albanische Gemeinschaft außerhalb Albaniens und des Kosovo. In den Ferien besuchen viele Kosovo-Albaner und -Albanerinnen ihre Familien. Dafür wird der Begriff der Heimkehrer verwendet.

Wer lebt im Kosovo?

Ein Großteil der heutigen Bevölkerung im Kosovo sind Albaner, die bereits während der jugoslawischen Zeit hier lebten und schon damals eine große Mehrheit bildeten. Neben Albanern gibt es eine serbische Minderheit im Land, die zu einem großen Teil den Norden besiedelt.

Nach dem Krieg 1999 wurden Teile dieser Gruppe vertrieben. Seitdem gibt es eine kontinuierliche Abwanderung nach Serbien. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung setzen sich aus Türken, Bosniaken, Kroaten oder Roma zusammen.

Wissen zum Kosovo-Krieg

Der Kosovokrieg 1998/1999 war der letzte bewaffnete Konflikt der Jugoslawienkriege und wurde ausgetragen zwischen Sicherheitskräften der serbischen Regierung und der Die UÇK war eine albanische paramilitärische Organisation, die aus dem Untergrund heraus agierte, für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte und sich der Unterdrückung der serbischen Machthaber entgegensetzte. Beide Konfliktparteien verübten schwere Kriegsverbrechen. Ab März 1999 trat die Nato in den Krieg ein, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Der Krieg endete im Juni 1999 mit dem Abzug der serbischen Streitkräfte. Seitdem sichert die Nato mit einer speziellen Einsatztruppe den Kosovo.

Nach unserer Ankunft in Mitrovica beschließen wir, uns mit ersten Vorräten einzudecken. Mir fällt auf, dass im Supermarkt jedes Produkt gekennzeichnet ist mit der Flagge des Herkunftslandes, und zwar in Karteikartengröße, direkt neben dem Preisschild. Der Nachteil der vielen Importe, auf die das Land angewiesen ist: Viele Dinge sind sehr teuer.

Anders sieht es beim regionalen Gemüse aus, welches nicht nur günstig ist, sondern auch eine besonders gute Qualität haben soll. Stolz wird mir erzählt: „Nur hier schmecken Tomaten, wie richtige Tomaten.” Vor allem die Somborka, eine besonders scharfe Art der Paprika, wird im Kosovo angebaut, ist günstig und wird häufig gegessen.

Wir kaufen nicht viel ein, weil wir nicht selber kochen wollen. Durch die hohen Kosten für Lebensmittel im Supermarkt sind Restaurants häufig eine günstige (und leckere) Alternative. Ich staune, als ich das erste Mal den Preis für eine große Pizza erblicke: 2,50 Euro.

Ibar-Brücke in Mitrovica
Nico Terhorst

Am nächsten Tag besuchen wir die bekannte Ibar-Brücke im Zentrum Mitrovicas. Diese Brücke trennt den nördlichen und südlichen Teil der Stadt und war in der Vergangenheit häufig Ort für Konflikte und Auseinandersetzungen.

Im Norden der Stadt lebt ein großer Teil der serbischen Minderheit, während der Süden hauptsächlich von Albanern bevölkert wird. Folgen des Kosovokriegs, die bis heute wirksam sind. Daher ist die Brücke noch immer für Autos gesperrt.

Wie du auf dem Foto sehen kannst: Auf den ersten Blick ist sie unscheinbar und trist. Auf dem zweiten Blick kann man auf der anderen Seite rot-weiße Betonblockaden erkennen. Auf der Straßenseite steht ein Jeep mit der Aufschrift „Carabinieri“. Die Bezeichnung der italienischen Militärpolizei.

Angst vor Gewalt auch nach Ende des Kosovo-Krieges groß

Mitrovica vom Norden aus gesehen
gettyimages/Joel Carillet
Eine serbisch-orthodoxe Kirche und Wohnhäuser dominieren den Blick von einem Hügel über der Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo. Auf der Nordseite der Stadt leben hauptsächlich Menschen mit serbischen Wurzeln.

Als wir die Brücke zu Fuß überqueren, merke ich, wie die Anspannung meiner Freundin steigt. Auch heute meiden Albaner und Albanerinnen den Norden, und die serbische Minderheit den Süden der Stadt. Die Angst vor gewalttätigen Übergriffen ist auch 20 Jahre nach Ende des Krieges groß.

Symbol der Zerrissenheit im Kosovo: Ibar-Brücke

Nach wenigen Minuten kehren wir daher um und entscheiden uns für eine kurze Rundfahrt mit dem Taxi. Die Ibar-Brücke ist nämlich nicht die einzige Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden. Es gibt noch zwei andere Brücken, die nicht so zentral liegen, dafür aber für den Autoverkehr freigegeben sind.

Albanische Flagge in Pristina
gettyimages/picturesd

Als wir den Norden erreichen, bin ich zunächst verwundert: Rote Flaggen mit einem schwarzen Doppelkopfadler säumen die Straßen. Dies ist die Nationalflagge Albaniens, die im gesamten Kosovo immer wieder das Straßenbild dominiert.

Seit seiner Unabhängigkeitserklärung 2008 hat der Kosovo eine eigene Nationalflagge. Trotzdem gilt die rote Flagge mit dem Doppelkopfadler auch heute noch als Identifikationssymbol und hat den Status einer inoffiziellen Nationalflagge.

Schwelender Kosovo-Konflikt im Sommer 2021

Die ersten Abschnitte im Norden sind noch von Kosovaren bewohnt. Nur 300 Meter weiter hängen paarweise in wenigen Meter Abstand die serbischen Flaggen. Und: Bei den meisten Kennzeichen ist das Herkunftsland weiß abgeklebt. Eine scheinbare Kleinigkeit, die jedoch eine Konsequenz aus dem Spätsommer 2021 ist.

Die Regierung des Kosovo erkannte plötzlich serbische Autokennzeichen nicht mehr an, da kosovarische Fahrzeuge bereits seit Jahren provisorisch ihr Kennzeichen bei einer Überfahrt nach Serbien ändern müssen. Die Spannungen zwischen den Ländern verschärften sich, konnten jedoch mit Hilfe der EU vorerst geschlichtet werden. Als Übergangslösung werden die serbischen Kennzeichen daher abgeklebt.

Vor dem Krieg war die Stadt nicht geteilt. Als wir an den rot-weißen Blockaden bei der Ibar-Brücke vorbeifahren, erzählt mir die Mutter meiner Freundin: „Früher haben wir uns hier jeden Tag getroffen. Von hier aus sind wir weitergelaufen von einem Café ins nächste. Nie sind wir nur an einem Ort geblieben. Nach 30 Minuten sind wir aufgestanden und weitergelaufen.“

Der Norden war der Teil, in dem das Leben stattfand.

Als die Konflikte zwischen serbischen Sicherheitskräften und der albanischen Bevölkerung zunahmen, verließen die Eltern meiner Freundin ihre Heimat. Ein großer Teil der Familie blieb jedoch im Land. Nach Ausbruch des Krieges mussten viele Familien in einer Nacht- und- Nebel-Aktion die Stadt verlassen. Ihr Ziel: Albanien.

Flucht nach Albanien

Auf ihrer Flucht erreichte eine große Anzahl von Flüchtenden auch das 600 Seelendorf Zllakuqan. Die unscheinbare Gemeinde liegt 60 Kilometer von Mitrovica entfernt und hat zwei Sehenswürdigkeiten. Einmal ist da der Pishina-Europapark. Ein riesiger Freiluft-Wasserpark, der überdimensioniert wirkt für so ein kleines Dorf. Die weitläufigen leeren Wiesen vor dem Eingang dienen im Sommer als Parkplatz und lassen erahnen, wie die Menschenmassen für eine Erfrischung hierhin pendeln.

Katholische Kirche im Dorf Zllakuqan im Kosovo
Nico Terhorst

Die andere Sehenswürdigkeit ist die katholische Kirche neben dem Gelände des Wasserparks. Ein Großteil der Menschen im Dorf ist römisch-katholisch.

Religionszugehörigkeit im Kosovo

In einem Land, in dem 96 Prozent der Bevölkerung muslimisch sind, ist das etwas Besonderes. Die Kirche nimmt in dem Dorf eine besondere Rolle ein. Während des Krieges gewährten Christen den Flüchtenden eine Bleibe und gaben den Menschen Nahrung. Ein kleines Schild vor der Zufahrt erinnert heute an die humanitäre Hilfe von damals. Angebracht wurde das Schild nach dem Krieg von Menschen aus Mitrovica.

Hier treffen wir auf Dodë Ndrecaj, einen guten Freund der Familie meiner Freundin und gläubiger Katholik. Als die Flüchtenden damals ankamen, gehörte er zu den Helfern. Nach dem Krieg arbeitete er als Übersetzer und war Professor an der Universität in Pristina, der Hauptstadt des Landes.

Portraitfoto
Nico Terhorst

Er verbindet mit dem Ort und der Kirche viele Erinnerungen: „Das hier ist meine Kirche. Hier wurde ich getauft und hatte meine Kommunion und Firmung. Vor dem Altar habe ich meine Frau geheiratet.” Stolz erzählt Dodë, dass 1897 die erste Schule der Region durch den damaligen Priester eröffnet wurde.

Als wir die Kirche betreten, die Platz für 150 bis 200 Menschen bietet, überkommt mich ein heimeliges Gefühl. Sie erinnert mich an die Kirche in meinem Heimatdorf und Erinnerungen an meine Zeit als Messdiener werden wach.

Begeistert erklärt mir Dodë vor einer Statue von Mutter Teresa: „Mutter Teresa ist hier bei uns die wichtigste Heilige. Sie war Albanerin und hat mit ihren Ordensschwestern vielen Menschen geholfen. Sie ist sowas wie eine Nationalheldin.“

Statue von Mutter Theresa in der Kathedrale von Pristina
gettyimages/BalkansCat
Statue von Mutter Theresa in der Kathedrale von Pristina

Auch in den Religionen zeigt sich gewissermaßen die Spaltung des Landes. Kosovo-Albaner sind zu einem großen Teil muslimisch, ein Teil ist katholisch. Die serbische Minderheit im Land gehört zur serbisch-orthodoxen Kirche.

Als wir uns von Dodë verabschieden, gibt er mir noch seine Sicht der Dinge mit auf den Weg: „Egal, welche Religion man hier im Kosovo hat: „An erster Stelle sind wir alle Kosovaren. Alle Religionen können an einem Tisch sitzen und gemeinsam essen. Es ist egal, ob du Katholik oder Muslim bist.“

Rückkehr nach Deutschland

Als ich nach einer Woche im Flugzeug nach Deutschland sitze, denke ich über Dodës Worte nach. Die Nation ist für den albanischen Teil der Bevölkerung das verbindende Element, das Muslime und Christen an einen Tisch bringt, das Identifikationssymbol als Kosovaren. Aber auch nur für diesen Teil der Bevölkerung.

Die serbische Minderheit und die restlichen ethnischen Minderheiten im Land sind damit nicht gemeint. Der Krieg und seine Folgen haben diese Probleme verstärkt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben.