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Erlebnisbericht von der chinesischen Mauer

Von Mauern, die heute noch Freiheiten beschränken

Die Stadtmauer von Xian ist die größte und heute vollständigste Stadtmauer in der Volksrepublik China.
Nico Bähr
Die Stadtmauer von Xian ist die größte und heute vollständigste Stadtmauer in der Volksrepublik China.

Die Mauer zwischen Ost und West ist längst Geschichte. Aber auch heute noch gibt es Grenzen, die für Menschen Gefahren bergen.

Nico Bähr
Evangelisches Medienhaus Stuttgart

Ich bin 30 Jahre alt und für mich war die Mauer zwischen DDR und BRD höchstens ein Gesprächsthema während des obligatorischen Schulausflugs nach Berlin. Die Schrecken der DDR-Diktatur fielen im Unterricht größtenteils unter den Tisch, weil am Ende des Schuljahrs meist die Zeit fehlte.

Obwohl ich später Geschichte studiert habe, passiert es, dass ich durch das Brandenburger Tor schlendere, ohne mir klarzumachen, dass dort noch wenige Jahre vor meiner Geburt ein Todesstreifen verlief. Dass es damals nicht ohne weiteres möglich war, Freunde zu besuchen in Halle und Magdeburg oder gar in Vilnius und Riga.

Offene Grenzen sind nicht selbstverständlich

Erst durch die Corona-Pandemie haben wir, als deutsche U30-Generation, am eigenen Leib erlebt, dass offene Grenzen nicht selbstverständlich sind. Mir wird dadurch umso deutlicher bewusst: Unbeschwert reisen zu können, sich keine Gedanken über Grenzen machen zu müssen, ist ein Luxus.

Zudem ist es ein Segen, offen und kritisch über die Einschränkung der Reisefreiheit sprechen zu dürfen – ohne Angst vor Repressalien, anders als es damals in der DDR war.

Moderne und unsichtbare Mauer in China

Und anders als heute in autoritären Regimen wie China. Dort wird die Meinungs- und Informationsfreiheit durch eine moderne, unsichtbare „Mauer“ beschränkt: Durch die ­Internetzensur, die viele Chinesen umgangssprachlich die „Große Feuerschutzmauer“ nennen.

Nico hat 2018 für ein Auslandssemester in China studiert.
Nico Bähr
Nico hat 2018 für ein Auslandssemester in China studiert.

Während meines Auslandssemesters bin ich auf Grenzen gestoßen, die ich aus Deutschland nicht kannte: Viele für mich alltägliche Internetseiten und Programme sind in China gesperrt. Nur mit teuren, in China illegalen Computer-Programmen oder Handy-Apps kann man „über die Große Feuerschutzmauer springen“.

Unterschiedliche Freiheiten in China und Deutschland

Diese unsichtbare Mauer ist wie eine Schere und setzt sich in den Gedanken fort: Zurück in Deutschland überlegte ich kurz, ob mir eine China-kritische Masterarbeit berufliche Chancen verbauen oder die erneute Einreise in das Land erschweren könnte. Doch letztendlich wollte ich mich nicht einschränken lassen.

Die wenigsten von uns haben in ­einer Diktatur wie China gelebt. Menschen meiner Generation können wohl kaum persönliche ­Erfahrungen mit den historischen Berichten über die DDR verbinden.

Aber gibt es nur in Diktaturen Mauern? Keineswegs!

Europas Grenzen sind für manche unüberwindbar

Griechenland hat in diesem Jahr mit einer 27 Kilometer langen, 5 Meter hohen Anlage die Grenze zur Türkei gegen die Ankunft von Asylsuchenden befestigt. An ­einer anderen Grenze, im Mittelmeer, steht zwar keine Mauer, aber die Patrouillen der staatlichen Küstenwachen sowie der Grenzschutzbehörde Frontex erfüllen oft genau diesen Zweck.

Ich finde es schrecklich, dass Lebensretter im Mittelmeer sich zum Teil wie Kriminelle verantworten müssen. Fluchthelfer:innen aus der Bundesrepublik, die DDR-Bürgern in die Freiheit halfen, haben Helden-Status – zurecht! Genauso müssten wir und die EU die Lebensretter im Mittelmeer wertschätzen.

„Wir sollten Grenzen und Mauern von heute in Frage stellen“

Der 60. Jahrestag des Mauerbaus sollte eine Erinnerung sein, dass Grenzen und Mauern noch heute allgegenwärtig sind. Nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Demokratien. Auch heute noch sind viele Menschen auf der Welt in ihrer Meinungs- und Bewegungsfreiheit beschränkt. Einige lassen auf der Suche nach diesen Freiheiten ihr Leben.

Für uns, für die diese Rechte selbstverständlich wirken, ist der Mauerbau vor 60 Jahren also auch heute noch aktuell: Wir haben nicht nur das Privileg, sondern auch die Verantwortung, die Grenzen und Mauern von heute in Frage zu stellen – damit wir unsere Freiheiten behalten und ­irgendwann auch der Rest der Welt in ihren Genuss kommen kann.