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Sklaverei

Wie sieht der Menschenhandel in Deutschland aus?

Frau in Fesseln + Text: Wenn Frauen zu Sklavinnen werden...
canva

Jährlich geraten junge Frauen in die Hände von Menschenhändlern. Das Ziel: Deutschlands Bordelle, Restaurants und andere Branchen.

von Johanna Tyrell

Arbeiten in Deutschland“ - für die 18-Jährige Helen ein Traum. Ein Onkel erzählte der Libyerin davon. Er habe auch schon Kontakte zu einer Madame, so nannte sich die Mittelsfrau. Für Helen schien ein Traum in Erfüllung zu gehen. Doch dann begann der Albtraum.

Bereits in Libyen wurde sie zur Prostitution gezwungen. Die nächste Station war Italien. Dort musste sie einen Asylantrag stellen. Was sie schreiben sollte, gab ihr die Madame vor.

Vor der Prostitution geflohen

Erst nach Monaten gelang ihr die Flucht aus diesem Zwangssystem. Helen kam nach Norddeutschland. Ihre Betreuerin in der Erstaufnahmestelle suchte Hilfe bei „contra SH“, der Beratungsstelle gegen Frauenhandel in Schleswig-Holstein.

Nur wenige Frauen bitten um Hilfe bei Zwangsprostitution

Nur langsam stabilisierte sich die Situation. Inzwischen hatte Helen eine Tochter. Einen neuen Asylantrag stellen, einen Schulabschluss machen, eine Tagesmutter finden „Rund ein Viertel der Frauen, die Opfer durch Menschenhandel geworden sind, meldet sich selbst bei uns“, sagt Claudia Rabe. Sie ist Koordinatorin bei „contra SH“.

Fälle wie den von Helen kennt auch Gaby Wentland. Sie ist Vorsitzende des VereinsMission Freedom“, der sich in Hamburg und Frankfurt für die Freiheit von Frauen aus Menschenhandel und Zwangsprostitution einsetzt.

Zwangsprostitution beginnt im Herkunftsland

Oft sind es Bekannte, Freunde oder auch Familienmitglieder, die die jungen Frauen in ihren Herkunftsländern rekrutieren“, erzählt Gaby Wentland. „Daher ist es so schwierig, wenn die Polizei die Frauen später fragt, ob sie denn freiwillig nach Deutschland gekommen sind.“ Die Aussage lautet dann: „Natürlich“.

Aber sie wurden um ihr wahres Leben hier getäuscht.

Gaby Wentland

Während Jobs als Model oder in der Gastronomie versprochen werden, sieht die Realität anders aus. Meist müssen die jungen Frauen im Bordell arbeiten. „Dann erfahren sie, dass sie bis zu 50.000 Euro Schulden haben, die sie erst einmal abzahlen müssen“, sagt Wentland.

An Sklaverei und Menschenhandel erinnern

Offiziell gibt es auf der Welt keine Sklaverei mehr. Als letztes Land hat 1981 Mauretanien die Sklaverei verboten. Doch Schätzungen zufolge sind noch immer mehr als 30 Millionen Menschen Sklav:innen. Oft werden sie schon als Kinder zur Zwangsarbeit gezwungen, in den weltweiten Sexhandel verkauft und sind in manchen Ländern noch immer vererbbares Eigentum. Es gibt mehrere Tage, die an den Sklavenhandel erinnern: Am 30. Juli erinnert die UNO 2013 an den Menschenhandel, am 23. August erinnert die UNESCO an den Sklavenhandel und seine Abschaffung, der Europarat gedenkt der europäischen Verantwortung am 18. Oktober, die katholische Kirche hat den 8. Februar zum Weltgebetstag gegen den Menschenhandel bestimmt.

Wenn eine junge Frau mit diesem Schuldenberg krank wird, wird ihr der Verdienstausfall in Rechnung gestellt. „Eine Endlosschleife. Die junge Frau zerbricht daran.“ Um ihre Entwurzelung und Abhängigkeit weiter zu schüren, muss sie immer wieder umziehen. Freundschaften und Vertrauen zu Menschen aufbauen? Unmöglich.

Auch deutsche Frauen Opfer im modernen Menschenhandel

Wenn du denkst, dass das ein Problem von Ländern im Ausland ist, weit gefehlt. Auch in Deutschland gibt es Opfer. Die meist Minderjährigen geraten auch hier in die Hände von  Menschenhändlern.

„In manchen Jahren kam gut ein Viertel der Frauen, die wir beraten haben, aus Deutschland“, sagt Claudia Rabe von „contra SH“. Denn Menschenhandel ist kein exotisches Phänomen, was in Deutschland nur am Rande vorkommt.

In Deutschland zur Sklavin werden: Die „Loverboy-Methode“

Da gibt es zum Beispiel das junge Mädchen, das beim Feiern einen gutaussehenden jungen Mann kennenlernt. Sie verliebt sich, er verspricht ihr die große Liebe, Geld, Haus, eine Familie, wenn sie ihm nur aus einer schwierigen finanziellen Lage heraushilft. Er bringt sie dazu, sich zu prostituieren und zu glauben, es sei ihre freie Entscheidung.

„Loverboy-Methode“ nennen Rabe und Wentland das. Die Ausbeutung reicht teilweise so weit, dass die Loverboys gleichzeitig mehrere Frauen auf diese Art benutzen.

Es ist kaum möglich, genaue Zahlen über den Menschenhandel zu bekommen. Das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht jedes Jahr einen Lagebericht zu Menschenhandel und Ausbeutung. Der Bericht beinhaltet jedoch nur abgeschlossene Ermittlungsverfahren mit Tatort in Deutschland.

Der aktuelle BKA-Bericht informiert unter anderem über sexuelle Ausbeutung im Jahr 2020. Im Vergleich zum Vorjahr hat demnach der Menschenhandel zugenommen. Fast die Hälfte der Opfer waren unter 21 Jahre alt. Die Verfahren wegen kommerzieller sexueller Ausbeutung sind um gut 50 Prozent gestiegen.

Tortendiagramm mit den Zahlen des BKA
Quelle: BKA / Foto: Canva
Wie wurden Opfer gefunden? Die Grafik zeigt die Ergebnisse der Ermittlungen 2019 und sind nicht ganz genau, denn auch Mehrfachnennungen waren möglich.

Hohe Dunkelziffer beim Menschenhandel

Die Dunkelziffer ist enorm. Laut KOK, dem bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel, kommt es in vielen Fällen überhaupt nicht zu einem Ermittlungsverfahren, geschweige denn zu einem Abschluss.

Teilweise wird Menschenhandel gar nicht als solcher identifiziert. Ganz zu schweigen von den vielen Betroffenen, die noch immer in ihrer Situation ausharren. „Vor Gericht wird eine hohe Beweisdichte benötigt“, erklärt Claudia Rabe von „contra SH“.

Hinzu kommt der enorme psychische Druck, dem die Frauen bei einer Konfrontation mit ihrem Peiniger ausgesetzt sind. Bei den vom BKA in den Jahren 2019 und 2020 erfassten Fällen waren die Opfer zu 95 Prozent  weiblich. Zum Großteil müssen sie in der Prostitution arbeiten.

Zwangsarbeit in Restaurants, Nagelstudios und Privathaushalten

Doch auch andere Branchen profitieren davon. Da arbeiten Menschen in der Gastronomie, die im Hinterzimmer des Restaurants schlafen und immer abrufbereit sein müssen, Haushaltshilfen oder Angestellte im Nagelstudio. Da wird kein Geld bezahlt oder für Unterkunft und  Verpflegung einbehalten, kein Urlaub, kein Krankengeld.

Dazu kommen Zwangsehen. „Immer wieder haben wir auch vermeintliche Au-pair-Mädchen, die auf einmal 24 Stunden, sieben Tage die Woche die Oma mitpflegen oder in der Landwirtschaft mitarbeiten müssen“, erzählt Claudia Rabe. Das Wissen um die eigenen Rechte besonders in einem fremden Land ist nicht da und macht die Frauen hilflos.

Frauen suchen in Schutzhäusern Sicherheit

Was sagt die Bibel zur Sklaverei?

Sklaverei war zu biblischen Zeiten etwas Selbstverständliches. Vor allem  Kriegsgefangene wurden von den Siegern als ihr Eigentum behandelt. Es war üblich, dass sich verarmte und verschuldete Menschen selbst oder Familienangehörige in die Sklaverei verkauften, um sich abzusichern.

Das hebräische Wort „’äwäd“/„’amah“ hat Luther nicht mit Sklave und Sklavin übersetzt, sondern mit „Knecht“ und „Magd“. Auf diese Weise überträgt er dieses Unterordnungsverhältnis in die spätmittelalterliche Gesellschaft.

Auch das Neue Testament ist geprägt durch den Gegensatz von Freien und Sklaven. Für diese Unfreien waren die jungen christlichen Gemeinden attraktiv. Die Autoren des Epheserbriefes (6, 5-9), des Kolosserbriefes  (3, 22) und des 1. Timotheusbriefes (6, 1-29) bestanden darauf, dass sie demütig im Alltag ihre Pflichten erfüllten. Doch wie der Brief des Paulus an die Galater (in 3, 28) zeigt, waren sie innerhalb der Gemeinde den Freien völlig gleichgestellt. Schon dadurch wurde das junge Christentum für die spätantike Gesellschaft gefährlich. Ein Grund für die damaligen Christenverfolgungen. Doch der Gedanke, dass vor Gott alle gleich sind, ließ sich nicht mehr ausrotten.

Contra SH“ ist die einzige Beratungsstelle dieser Art in Schleswig-Holstein, finanziert vom Land und dem Frauenwerk der Nordkirche. Claudia Rabe und ihre Kolleginnen fuhren allein 2019 von Kiel aus 14.000 Kilometer, um in allen Regionen des Landes in Krisen präsent zu sein, zu beraten und bei Behörden oder Gerichtsverhandlungen zu unterstützen.

Hilfestellen für moderne Sklavinnen

In Frankfurt gibt es beispielsweise das von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau unterstützte Beratungszentrum FIM. FIM steht für „Frauenrecht ist Menschenrecht“. Auch die Diakonie Hessen gehört zu den Unterstützern. 

Ähnliches leistet „Mission Freedom“. Die Gewalt, die diese Frauen erleben, lässt sie oftmals traumatisiert zurück. „Die Frauen haben enorme Angst“, sagt Wentland. Für sie hat „Mission Freedom“ spezielle Schutzhäuser eingerichtet. Dort haben diese Frauen einen Ort, der ihnen Sicherheit gibt und an dem sie zur Ruhe kommen können, um eine neue Lösung für ihre Zukunft zu finden. So können sie behutsam wieder in ein normales Leben geführt werden.

Im Video ⬇️ erzählt Gaby Wentland von ihrer Arbeit

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Mich macht das so wütend. Diese Frauen sehen keinen Arzt, wissen nicht um ihre Rechte oder was der Mindestlohn ist“, sagt Gaby Wentland. Da würde ihrer Meinung nach auch ein Prostitutionsschutzgesetz nicht helfen. Durch so ein Gesetz würden Prostituierte offiziell registriert und bekämen Zugang zu Gesundheitsberatungen.

„Die Frauen, mit denen wir zu tun haben, sind nicht angemeldet, sondern arbeiten im Verborgenen. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschlossen, Prostituierte zu werden, sondern keine Alternative“, betont Wentland von „Mission Freedom“.

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Wentland erzählt vom „Nordischen Modell“, was unter anderem in Schweden Anwendung findet. Dort werden die Freier bestraft und nicht die Prostituierten. Zusätzlich werden Ausstiegsmöglichkeiten ausgebaut und die Gesellschaft sensibilisiert.

Wirtschaftliche Not bekämpfen = Menschenhandel bekämpfen

„Das hat zu einer drastischen Verringerung des Menschenhandels geführt“, so Gaby Wentland. Doch es gibt auch Kritik an dem Modell.

Menschenhandel funktioniert am besten unter der Decke.

Claudia Rabe

Gesetze, die Handlungen kriminalisieren, führten nur dazu, dass sie im Verborgen weiterbestehen. „Wir müssen gerechte Bedingungen für alle Frauen schaffen und gegen das weltweite Armutsgefälle angehen“, sagt sie.

Solange wirtschaftliche Not und Chancenungleichheit Frauen dazu treibe, ihre Heimat und ihre Familie zu verlassen, werde es Menschenhandel geben. In den verschiedensten Branchen.

„Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir immer nach besseren Möglichkeiten für uns suchen. Und es wird immer Menschen geben, die das ausnutzen“, sagt Claudia Rabe von „contra SH“.

Wichtig sei aufzuklären:

  • die Stellen, die mit von Menschenhandel betroffenen Personen in Erstkontakt kommen,
  • Polizei, Behörden, Zoll oder Beratungsstellen und 
  • die Betroffenen selbst durch ein mehrsprachiges Informationsnetz.

Denn wer illegal in Deutschland lebt oder nur denkt, er tue etwas Strafbares, und daher keine Hilfe sucht, kommt viel leichter in eine Situation der Ausbeutung.