Kirche als Täterin

Sexuelle Gewalt: Als Missbrauchs-Betroffener damit umgehen

Matthias Schwarz spricht vorm Mikrofon über Missbrauch in der evangelischen Kirche
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Matthias Schwarz hat im November 2023 vor der EKD-Synode über Verfahren in der Kirche für Missbrauchsbetroffene gesprochen.

Die evangelische Kirche hat beim Thema Missbrauch versagt. Betroffene sprechen sich aus und kämpfen für mehr Bewusstsein in der Kirche. Matthias Schwarz fordert Veränderungen und setzt sich für Gerechtigkeit ein.

Matthias Schwarz ist in Biedenkopf-Breidenstein aufgewachsen. Ab dem Alter von 13 Jahren wurde er von seinem Gemeindepfarrer sexuell missbraucht. Der Pfarrer eigentlich jemand, zu dem er aufgeschaut habe.

Hätte niemand den sexuellen Missbrauch geglaubt?

Während seiner Konfizeit von 1973 bis 1974 kam es immer wieder zu Übergriffen. Auch heute kann der 63-Jährige nicht alles beim Namen nennen. „Ich fühlte mich total ausgeliefert.“ Damals darüber sprechen? Undenkbar, wer würde ihm glauben… Den Missbrauch hat er schließlich „in einer Kammer meines Herzens eingeschlossen“. Dem Pfarrer ging er aus dem Weg.

Von sexuellem Missbrauch betroffen: Matthias Schwarz auf der EKD-Synode 2023
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Als Betroffener setzt er sich innerhalb der Kirche für einen einheitlichen Umgang mit sexueller Gewalt ein.

„Mein Täter war etwa 30 Jahre in der Gemeinde tätig“, sagt er heute. Er geht von „unzähligen weiteren Betroffenen“ aus. Aber bis heute ist er der einzige, der den sexuellen Missbrauch dieses Mannes öffentlich gemacht hat.

Systematische Fehler im Umgang mit Betroffenen von sexuellem Missbrauch

Trotz dieser Erfahrung ist Matthias Schwarz selbst Pfarrer geworden. Die letzten 15 Jahre davon war er Gemeindepfarrer in der Wetterau. Seit 2023 ist er im Ruhestand.

Mit seinen Erlebnissen steht Matthias Schwarz nicht alleine da. Auch andere Kinder und Jugendliche haben in den mehr als 75 Nachkriegsjahren im Schutz der evangelischen Kirche sexuelle Übergriffe erlebt. Wie viele, sollte eine unabhängige Studie, die ForuM-Studie, zeigen. Doch das Ausmaß des Missbrauchs bildet sie nach eigenen Angaben „in keiner Weise“ ab.

Hilfe bei sexuellem Missbrauch

Du möchtest über sexuelle Übergriffe oder über einen Verdacht reden? Dann kannst du dich vertraulich an folgende Stellen wenden:
👉 Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 - 22 55 530
👉 Telefonseelsorge: 0800 - 1110111 oder 0800 – 1110222
👉 Zentrale Anlaufstelle.help
👉 Anonyme Meldestelle der EKHN

Gefunden hat das Forschungsteam für den Zeitraum zwischen 1945 bis 2020 in den Akten 2.225 Opfer und 1.259 Beschuldigte. Die Zahl dürfte deutlich höher liegen. Zwei Fünftel der mutmaßlichen Täter sind Pfarrer, nahezu alle männlich. Laut der Studie waren die Taten meist geplant und fanden mehrfach statt.

Mehrfachtäter bei sexueller Gewalt

Als Ansprechpartner für Betroffene in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) wundert das Matthias Schwarz nicht.

Innerhalb seines Netzwerks mit anderen Betroffenen seien solche Fälle die Regel. Er vermutet, wenn jemand in seinem Fall damals in die Protokolle des Kirchenvorstandes reingeschaut hätte, hätte weiteres Leid verhindert werden können.

Kirchliche Fachstelle

An die Fachstelle für sexuelle Gewalt können sich Betroffene mit ihren Erfahrungen wenden. Matthias Schwarz ist als Betroffenenvertreter dein Ansprechpartner innerhalb der EKHN. Du kannst dich aber auch über das anonyme Meldeportal der EKHN melden.

Matthias Schwarz hat an der Missbrauchs-Studie aktiv mitgewirkt. Er kritisiert unter anderem das Design, stellt aber die Ergebnisse nicht in Abrede. Besonders wichtig sind ihm drei Kritikpunkte der Studie:

1. Priestertum der Gläubigen

Matthias Schwarz beschreibt ein theologisches Problem in der evangelischen Kirche. Sie definiert sich durch das Priestertum aller Gläubigen. Diese Idee stammt von Martin Luther und besagt, dass die Menschen nur Gott Rechenschaft schuldig sind und keinem anderen.

Doch dieser Grundsatz „wird im Alltag nicht gelebt“. Matthias Schwarz betont: „Es gibt noch immer ein starkes Machtgefälle zwischen Personen, die im kirchlichen Dienst sind, und den ihnen anvertrauten Menschen“.

2. Harmonie und Vergebung

Die Studie benennt außerdem einen „Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit“ im „Milieu der Geschwisterlichkeit“. Matthias Schwarz fasst die Lehre, die dahintersteht als „täterorientiert und nicht betroffenenorientiert“ zusammen.

3. Umgang der Landeskirchen mit sexuellem Missbrauch

An vielen Stellen ist die Kirche nicht gut mit Betroffenen umgegangen. Auch Matthias Schwarz hatte keinen guten ersten Kontakt zur Kirche, als er über seinen Fall reden wollte. Das war 2010, mehr als 30 Jahre nach den Taten.

Sein zweiter Anlauf im Jahr 2014 sah da schon anders aus: „Die Ansprechperson hat zugehört und hat mich in unserem Telefongespräch eingeladen, dass wir uns persönlich treffen.“

Er betont: „Ich hatte zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass sie das anzweifelt, was ich sage.“ Besonders wichtig sei auch, dass sie ihm zugehört habe. Zusammen haben sie besprochen, „wie es in meinem Fall weitergehen kann, ob es Disziplinarverfahren gibt oder wie wir mit dem Täter umgehen können“.

Was die Missbrauchsstudie ForuM für die Betroffenen bedeutet

Matthias Schwarz spricht vorm Mikrofon über Missbrauch in der evangelischen Kirche. Im Hintergrund die Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs.
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Deswegen sieht er die ForuM-Studie auch als Doppelpunkt für die kommende Arbeit innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Weg vom föderalen Flickenteppich, hin zu mehr Einheitlichkeit für Betroffene und in der Anerkennungsarbeit, im Bereich Disziplinarrecht und Aufarbeitung.

Wunsch: Künftiger Umgang der EKHN bei sexuellem Missbrauch

Für die Landeskirche wünscht er sich noch viel mehr Bewusstsein. Zu wenige Menschen innerhalb der evangelischen Kirche seien sprachfähig und mit dem Thema immer noch überfordert. „Ich merke immer wieder in meiner Arbeit, dass es einen großen Widerstand gibt, darüber zu reden.“ Jede Einrichtung und jede Kirchengemeinde müsse sensibler werden. Nur so könne eine Atmosphäre entstehen, „die es Betroffenen ermöglicht, zu reden“.

Mehrfachtäter durch Kirche geschützt

Dabei müsse die Kirche auch neue Strukturen aufbauen, wie sie mit den Meldungen umgehe. Er beschreibt folgendes Beispiel: Täter war in Gemeinde #1. Da ist ein Fall gemeldet worden. Dann war er in Gemeinde #2. Da ist auch ein Fall gemeldet worden.

Das muss man dann auch mal zusammenbringen.

So kritisiert Matthias Schwarz. Er formuliert den Auftrag, auch selbst zu ermitteln.

Niemand wolle einer Gemeinde ihre Leute wegnehmen, aber es müsse einheitliche Verfahren geben, wie in solchen Fällen vorzugehen sei. Dazu trägen beispielsweise eigene Präventions- und Schutzkonzepte innerhalb von Einrichtungen und Kirchengemeinden bei.

Außerdem überlege das Team der Fachstelle aktuell, wie es Betroffenen einfacher ermöglicht werden könne, Übergriffe zu melden und sich behutsam zu äußern. Schließlich sei der Vorwurf, dass innerhalb der evangelischen Kirche die Täter:innen geschützt würden, „zumindest in weiten Teilen noch aktuell“.

Als Betroffener über Missbrauch in der evangelischen Kirche reden

Matthias Schwarz betont, wie schwer es ist, „aus der Deckung raus zu kommen“. Er vertrete gerade eine Person, die aufgrund psychischer Leiden das Haus nicht mehr verlassen könne. Als Vertrauter übernimmt er nun die Gespräche mit der Anerkennungskommission der EKHN.

Deswegen rät Matthias Schwarz Menschen, die sich wegen sexualisierter Gewalt melden wollen, sich erst einmal anonym bei der Fachstelle sexualisierte Gewalt über das Online-Portal zu melden. So müsse niemand mehr Informationen Preis geben, als man wolle, bekomme aber Informationen und Hilfe angeboten.

Und wer sich nicht traut, sich direkt in der Fachstelle zu melden, meldet sich bei mir“, fügt er hinzu.

Matthias.Schwarz(at)befo.ekd.de

01515-9470112

BeNe: Austausch mit anderen Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche

Im Frühjahr soll es noch weiteren Support geben. Mitglieder der Betroffenenvertretung der EKD planen eine Online-Plattform für Betroffene sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie, kurz BeNe, zu starten. Quasi ein zentrales Forum für Betroffene mit drei Schwerpunkten:

  • Austauschen
  • Unterstützen
  • Informieren

Obwohl die EKD die Mittel dafür stellt, „arbeiten da keine Beauftragten mit“, betont Matthias Schwarz. „Das ist eine Gruppe, die nur aus Betroffenen und ein paar Fachpersonen besteht“.

Vertrauliche Atmosphäre mit Menschen, denen man sich nicht erklären muss

BeNe soll „ermöglichen, dass Betroffene miteinander in Kontakt kommen können“. Das sei ganz wichtig, erklärt Matthias Schwarz. „Es ist hilfreich, wenn man merkt, man ist nicht alleine.“ Hinzu komme noch ein wesentlicher Faktor. Mit „Menschen reden, denen man nicht alles erklären muss, sondern die einfach wissen, wovon man redet“.

Diese Hoffnung setzt er in das Online-Netzwerk, denn es soll auch ein Forum und private Chaträume beinhalten. Außerdem soll BeNe praktische Informationen rund ums Thema liefern. Beispielsweise welche Melde-Strukturen es gibt oder auch welche Therapeut:innen gut geeignet sind.