Glaube

Muslimisch-jüdische Erfahrung: Diskriminierung ist Teil unseres Lebens

Kiril und Furkan sitzen auf einer hellblauen Couch und sprechen miteinander.
Martina Dippon
Manchmal streiten sich Kiril (links) und Furkan über politische Themen. So entstehen neue Perspektiven und gute Kompromisse.

Kiril und Furkan erleben Diskriminierung täglich. Warum sie trotzdem Hoffnung haben – und sich für Zusammenhalt einsetzen.

Furkan Yüksel ist gläubiger Muslim, Kiril Denisov ist praktizierender Jude. Die beiden sind beste Freunde und das, obwohl sie nicht immer einer Meinung sind und unterschiedlichen Religionen angehören. 

Kiril versteckt seine jüdische Identität – aus Angst

2001 kommt Kiril gemeinsam mit seiner Familie aus Lettland als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Seine jüdische Identität hält er auf Rat seiner Mutter geheim. „Mach dich nicht zur Zielscheibe“, waren ihre Worte, erinnert sich der junge Mann. 

Mittlerweile steht Kiril offen zu seiner jüdischen Identität und trägt einen Davidstern. Eine Entscheidung, die dazu geführt hat, dass Diskriminierung und Ausgrenzung feste Bestandteile seines Lebens geworden sind.

Juden haben Angst vor Gewalt

Kiril und Furkan im Gespräch. Die Kamera fokussiert Kiril, während Furkan unscharf im Profil zu erkennen ist.
Martina Dippon

„Ich frage mich häufig, ob ich auf der Straße als Jude erkannt werde – die Angst vor Gewalt ist in meinem Umfeld sehr präsent“, sagt er. „Gerade jetzt“, da die AfD in vielen Bundesländern an Schwung aufnehme und „in manchen schon die Sperrminorität erreicht hat, fragen wir uns: wie lange wir in Deutschland noch willkommen und sicher sind“, erzählt er. 

Doch dabei bleibt es nicht, betont Kiril. Er ergänzt, 90 Prozent der jüdischen Community in Deutschland seien migriert. „Da wurden in der Vergangenheit viele Abschlüsse nicht anerkannt oder Rentenleistungen nicht angerechnet. Das hat natürlich langfristige Auswirkungen auf Wohlstand und Handlungsspielräume und belastet Familien oft über Jahrzehnte.“

Schweinekopf vor der Moschee

Auch Furkan erlebt Anfeindung aufgrund seiner Religion und Herkunft. „Rassismus hat in meinem Leben sehr unterschiedliche Facetten. Mal wird man von einem vorbeifahrenden Radfahrer angespuckt, mal liegt ein abgetrennter Schweinekopf vor der lokalen Moschee und immer wieder stehen rassistische Parolen an unseren Hauswänden“, berichtet er. 

Doch damit nicht genug: „Auf der strukturellen Ebene wird oft so getan, als könnten gesellschaftliche Probleme beseitigt werden, indem man ‘uns Sozialschmarotzer’, die dem Land auf der Tasche liegen, loswird. Wir werden als Gäste oder sogar Eindringlinge – jedoch nie als fester Bestandteil dieser Gesellschaft gesehen“, beschreibt er traurig die Lebensrealität vieler. 

Gemeinsam gegen Diskriminierung

Diese Zustände nehmen die zwei Freunde aber nicht tatenlos hin. Beide engagieren sich in der Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu: 

  • Antisemitismus

  • Rassismus 

  • Rechtsextremismus

Furkan arbeitet als Referent bei der Bildungsstätte Anne Frank. Kiril ist als Botschafter und Projektmitarbeiter für das Stuttgarter Bildungsprojekt „Shalom und Salam“ tätig. 

Beide Männer sind davon überzeugt, dass die wenigsten Menschen mutwillig rassistisch oder antisemitisch sind. „Ich glaube, dass viele der bestehenden Vorurteile unbewusst übernommen wurden“, sagt Furkan. Durch ihre Arbeit wollen sie beim Entlarven dieser Vorurteile helfen und auf alltägliche Diskriminierung aufmerksam machen

Auszüge aus dem Grundgesetz

Artikel 1 GG – Schutz der Menschenwürde - Wortlaut:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 3 GG – Gleichheit vor dem Gesetz - Wortlaut (Auszug):

  1. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
  2. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
  3. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

„Ich träume von einem gerechten Deutschland, in dem sich alle Menschen, mit jeder Konfession wohlfühlen“, sagt Kiril. Er weist auf Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes hin: „Hier steht deutlich, dass Diskriminierung verboten ist. Dennoch ist sie fester Bestandteil unseres Lebens.“ 

Leben wir in einer kaputten Welt?

Den beiden Freunden ist zwar bewusst, dass keiner von ihnen Deutschland von heute auf morgen zu einer Utopie machen kann: „Unsere Welt ist nicht perfekt und wird es nie sein“, betont Furkan. Dennoch sind sie der Meinung, dass jeder Mensch seinen Beitrag für eine bessere Gesellschaft leisten sollte. 

„Im Judentum gibt es ein theologisches Konzept namens ‘Tikkun Olam‘. Dies besagt, dass diese Welt nicht das Paradies, sondern kaputt ist“, erklärt Kiril. Es besagt, dass wir als Individuen sie nicht vollständig reparieren können. Aber „gleichzeitig sind wir nicht von der Verantwortung entbunden, unseren jeweiligen Teil zu einer besseren Welt beizutragen“. Kiril nennt konkrete Beispiele: „kleine Akte der Freundlichkeit und des aufeinander Rücksicht Nehmens“. 

Hast du Diskriminierung erfahren? 

Bei der Antidiskriminierungsstelle kannst du dir Hilfe holen.

Nicht immer einer Meinung

Kiril und Furkan stehen Seite an Seite und lächeln in die Kamera.
Martina Dippon

Als sich die beiden Männer vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung von Shalom und Salam“ kennengelernt haben, hat es laut Furkan sofort „Klick“ gemacht. „Seitdem sind wir Best Friends“, erzählt Kiril grinsend. 

Einer Meinung sind die beiden Freunde trotzdem nicht immer. „Natürlich haben wir manchmal auch hitzige Debatten“, erzählt Furkan. „Aber uns ist es wichtig, dass wir uns im Nachhinein noch in die Augen schauen können.“ 

Bei unseren Diskussionen geht es nicht darum, recht zu haben, sondern darum, den anderen zu verstehen.

Kiril Denisov

Kiril ergänzt: „Man kann unterschiedlicher Meinung sein, ohne sich gegenseitig die Menschlichkeit abzusprechen.“

Sich hin und wieder über Dinge zu streiten, finden die beiden wichtig. „Dadurch entstehen neue Perspektiven! Demokratie bedeutet für mich, dass man miteinander Kompromisse findet. Dafür muss man aber miteinander ins Gespräch gehen, manchmal auch in hitzige“, betont Furkan.

Sie beten zu unterschiedlichen Göttern

Kiril spricht seinen Gott mit „HaSchem“ an. Furkan betet zu Allah. Ihr Glaube unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht, voneinander lernen, können die beiden trotzdem.

„Ich bewundere, dass Furkans so bewusst und konsequent durchs Leben geht. Sei es bei seiner Ernährung, seinem Job oder beim Thema Gebet. Wenn er etwas macht, dann macht er es richtig“, zählt Kiril auf. 

Furkan ergänzt „Im Judentum ist das Hinterfragen von Texten, Lehren und Traditionen ein wichtiges Thema. Eine Eigenschaft, die auch Kiril hat und die ich sehr an ihm schätze – mit einer einfachen Antwort gibt er sich nicht zufrieden.“

Kiril und Furkan sitzen auf einem Sofa Seite an Seite und lächeln in die Kamera.
Martina Dippon

Eine ganz normale Freundschaft

Dass die beiden trotz ihrer Unterschiede eine so enge Freundschaft pflegen, trifft bei manchen Menschen auf Verwunderung. Andere behaupten, dass ihre Freundschaft den Nahostkonflikt lösen könnte. Beides dementieren Furkan und Kiril.  

„Wir gehören beide zu einer Religion, die in Deutschland in der Minderheit ist. Interreligiöser Dialog und interreligiöse Freundschaften sind für uns deshalb Alltag und nichts Außergewöhnliches“, betont Furkan. Kiril nickt zustimmend. „Gleichzeitig sind wir keine Repräsentanten des Judentums oder des Islams und stimmen auch nicht mit allen Lehren überein. Wir sind Menschen, die eine Religion haben, innerhalb dieser aber eine eigene Position vertreten.“ 

Hast du auch ähnliche Erfahrungen gemacht? Schreib uns gerne deine Beobachtungen via Social-Media auf: 

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Auf die Frage, ob es mehr interreligiöse Freundschaften bräuchte, antworten die beiden Freunde mit einem Schulterzucken. 

„Es wäre wundervoll, wenn es so einfach wäre, aber das ist zu schön, um wahr zu sein. Nur weil man einen Juden oder einen Muslim kennt, verschwinden nicht plötzlich alle Vorurteile gegenüber einem ganzen Volk oder einer Religion“, sagt Furkan. Er ergänzt: „Trotzdem ermutige ich alle Menschen, ihre Perspektiven zu erweitern und den Mut zu haben, andere Menschen, die sich in Herkunft und Religion von einem selbst unterscheiden, kennenzulernen.“ 

Der Gedanke, dass ihre Freundschaft den Nahostkonflikt lösen könnte, ist für die beiden deshalb hinfällig. 

Keine Vorbilder sein

„Wir wollen nicht zu Vorbildern gemacht werden! Aber wir möchten mit unserer Arbeit dazu beitragen, dass Menschen ihre Vorurteile erkennen und sich bewusst von ihnen verabschieden“, betont Kiril. „Am Ende sind wir halt auch nur zwei Freunde, die sich bei einem Kaffee gerne über Anime, Sport, Geschichte und hin und wieder auch über Politik austauschen.“