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Interview

Streetartist Dank der Unterschrift der Eltern

Stinkefinger-Jesus in Mörfelden-Walldorf
Marcel Gassan

Sein Stinkefinger-Jesus hat Aufsehen erregt. Wir haben mit dem Graffiti-Künstler Kai Lippok über seine Arbeiten und seinen Werdegang gesprochen.

Über die Hälfte seines Lebens werkelt der 34-jährige Kai Lippok schon an seiner Streetart. 2018 malte er dann in Mörfelden am Bahnhof ein Jesus-Graffiti, dass allen den Stinkefinger zeigt. Das Graffiti hat damals für viele Diskussionen gesorgt und wurde stark kritisiert. Doch es ist bis heute immer noch da. Kai erzählt im Interview über sich und seine heutige Kunst.

Für mich ist Streetart deswegen so cool, weil es die Geschichten der Straßen auf den Hauswänden erzählt: Welche Geschichten verarbeitest du in deiner Kunst und welche krasse Geschichte hast du erlebt?

Selbstporträt mit Maske von Kai Lippok
Kai Lippok

Kai: Ich bin nach über 20 Jahren immer noch Writer und stehe mit meiner Arbeit für die Graffitikultur, wobei es darum geht sein eigenes Zeichen in der Welt zu hinterlassen. Da geht es nicht um „krasse“ Geschichten, die mich zu irgendetwas bewegen.

Was hat dich zum Streetartist werden lassen? 

Kai: Ich habe gezeichnet seitdem ich denken kann, wie man es so schön sagt. Und ich habe geschrieben seitdem ich schreiben kann. Ich habe im Schulalter Comic Figuren kopiert und Typografien nachgeahmt, bis mich 1999 Hip-Hop einfing und nie mehr losließ.

Graffiti hat einen wahnsinnig großen Eindruck auf mich gemacht und ich wollte das auch machen. Ich habe damit angefangen und bis heute nicht damit aufgehört. Während meines kunstpädagogischen Studiums habe ich mich mit Malerei in verschiedenen Formen auseinandergesetzt. Seither verbinde ich Graffiti mit informeller Malerei.

Gibt es Umstände aus deinem Umfeld, die deine Arbeit geprägt haben? Was prägt sie heute?

Kai: Ich denke, dass meine Eltern die am weitesten in die Vergangenheit reichende Einflüsse meiner gestalterischen Arbeit sind. Ich habe gerne dabei zugesehen, wie beide ihre Signaturen setzen, in ganz unterschiedlicher Manier. Das faszinierte mich.

Jesus-Graffiti mit Stinkefinger provoziert

Nachdem Kai den Stinkefinger-Jesus 2018 gesprayt hatte, fühlten sich vor allem Angehörige der Freien evangelischen Kirchengemeinde in ihren religiösen Gefühlen verletzt und übten starke Kritik. Es gab Diskussionsrunden in der Stadt. Die christlichen Gemeinden waren sich jedoch uneins über das Werk. 

Der Stinkefinger-Jesus hat damals ganz schön provoziert - wie findest du die Diskussion?

Kai: Ich habe von der Diskussion nicht wirklich etwas mitbekommen und bewusst nicht daran teilgenommen. Das hätte der Arbeit im Weg gestanden. Ich bin leider noch nicht so reif jeder Diskussion seine Daseinsberechtigung auszusprechen, aber versuche dort hinzukommen. Wenn es aber darum geht sich selbst (und im Zuge dessen logischer Weise die Gesellschaft und ihre Umwelt) zu hinterfragen, begrüße ich das natürlich.

Und warum zeigt Jesus zwar den Mittelfinger, aber schaut so traurig?

Stinkefinger-Jesus in Mörfelden-Walldorf
Marcel Gassan
Drei Jahre später sieht der Stinkefinger-Jesus so aus.

Kai: Mir ist bis heute nicht aufgefallen, dass die Figur traurig schaut. Die herablaufende Farbe lässt eine schnelle Assoziation zu Tränen zu. Das ist für mich durchaus nachvollziehbar. War aber nicht die Intention während des Prozesses. Drips sind viel mehr ein gestalterisches Element, welches ich bewusst und oft in meinen Arbeiten verwende.

Ich halte es mit der Gesichtsmimik in meinen figürlichen Darstellungen in der Regel neutral und stelle keine ausschweifenden Emotionen dar. Die Augen sind meist geschlossen, wie auch in der genannten Figur.

Wie sieht der Prozess bei dir aus, von der Idee bis zur Umsetzung?

Kai: Ich versuche vor Beginn der Arbeit so wenig wie möglich darüber nachzudenken, was ich tun möchte. Lediglich das Material lege ich mir dann zurecht. So arbeite ich am liebsten. Ich kann dann alles auf natürlichem Wege vor Ort, während des Prozesses, intuitiv entstehen lassen.

Was willst du mit deinen Bildern erreichen?

Kai: Wenn ich male, tue ich es in erster Linie für mich. Ich erfahre dadurch Heilung. Alles weitere, von außen Kommende ist am Ende des Tages Stress. Egal ob positiv oder negativ.

Normalerweise verbindet man große Städte wie Berlin, Hamburg oder München mit Graffitis. Wo liegt der Unterschied zum Sprayen in der Kleinstadt? 

Kai: In der Kleinstadt ist nicht so viel los. Das ist der Unterschied zur Großstadt. Entweder nutzt du dass, um in Ruhe an Arbeiten zu feilen... oder du lässt eben selbst etwas passieren.

Mainstream vs. Underground: Wie siehst du den Wandel der Streetart in den vergangenen Jahren?

Kai: Graffiti ist längst nicht mehr „Untergrund“. Das wilde Arbeiten ist weiterhin stark präsent und nicht akzeptiert. Dennoch erzielen Arbeiten von Malern, die auch in den Straßen aktiv waren oder sind, auf dem Kunstmarkt Preise in Millionenhöhe. Ha!

Die Welt bleibt voller Absurditäten und voller Wunder. Graffiti ist seit der Entstehung die innovativste Kunstform mit dem breitesten Wirkungsspektrum. Da ist noch viel Potential zum Aussaugen!