Soziales

Suizid bei Kindern und Jugendlichen: raus aus der Tabuzone

An der Strandpromenade steht ein Mann mit Blick aufs Meer. Er hat die Hände in den Taschen.
gettyimages/OJO Images

Emil Puhl nahm sich das Leben – mit 16 Jahren. Seine Familie ging an die Öffentlichkeit und klärt über Suizidprävention und psychische Erkrankungen auf.

Am 20. Juni 2020 verlässt der 16-jährige Emil sein Elternhaus. Er wolle er bei einem Freund übernachten. Sein Vater Oliver ruft ihm vom Küchenfenster noch „Tschüss“ hinterher. Emil dreht sich um, nickt – ein klarer Blick. Die Familie weiß in diesem Moment nicht, dass es ein Abschied für immer ist.

Psychische Probleme als Warnsignale

Emil kämpft seit längerem mit psychischen Problemen. Er hat Suizidgedanken geäußert, war in einer Klinik. Dort wurde eine Autismus-Spektrum-Störung (Asperger) diagnostiziert, außerdem Depression

Wo findest du sofort Hilfe bei Suizidgedanken?

Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 | 0800 111 0 222

Nummer gegen Kummer: 116 111 für Jugendliche | 0800 111 0 550 für Eltern

Online-Hilfe: Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention | u25-deutschland.de

👉 Du bist nicht allein. Sprich mit jemandem, ruf an, schreib. Hilfe ist da – jederzeit und kostenlos.

Nach der Entlassung schien er stabil. Die Eltern und die drei Geschwister ein gutes Gefühl, endlich - nach schweren Monaten. Doch er hatte wahrscheinlich längst entschieden, nicht mehr weiterleben zu wollen.

Am nächsten Tag findet man Emil im Frankfurter Stadtwald. Er hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Für die Familie bleibt ein tiefer Schmerz – und der Wunsch, anderen zu helfen.

Welche Warnsignale gab es?

Nach der Klinik wirkte Emil „auf einem guten Weg“. Er traf Freund*innen, sprach über Zukunftspläne. Er wollte sich neben der Schule an der Universität für Mathematik und Physik einschreiben, mit seiner Schwester ging er ins Kino. Nur waren es keine Signale der Entwarnung, sondern alles kleine Abschiede.

Rückblickend erkennen die Eltern Alix und die stillen Signale. Psychische Erkrankungen sind oft unsichtbar. Sie können jedoch lebensbedrohlich sein. Genau deshalb braucht es drei Dinge: 

  • Wissen
  • Aufmerksamkeit
  • offene Gespräche

👉 Im Interview mit chrismon (April 2025) erzählt Emils Mutter Alix Puhl, was sie heute anders machen würde: „Uns fehlte jegliches Wissen über psychische Erkrankungen. Wir wussten nicht, wie wichtig es ist, Veränderungen im Verhalten unserer Kinder bewusst zu beobachten, richtig einzuordnen und entsprechend zu handeln.“

chrismon-Kongress 2025

Zwischen Krisen und Umbrüchen feiert chrismon 25 Jahre Zuversicht – beim Kongress am 24. Oktober in Frankfurt.

Mit dabei: Alix Puhl, Mutter von Emil und Gründerin von tomoni mental health. Die Initiative macht stark im Umgang mit psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen – und zeigt, wie wir früh helfen können. 👉 Sei dabei & sichere dir deinen Platz.

Wie erkennst du Suizidgedanken oder Depression?

  • Rückzug aus Freundeskreisen oder Familie
  • Plötzliche Veränderungen im Ess- oder Schlafverhalten
  • Aussagen wie: „Es ist alles grau“ oder „Ohne mich wäre es besser

Alix Puhl sagt: „Wir müssen genau hinschauen. Und dafür brauchen wir das ganze Dorf.“ Damit meint sie: Eltern, Freund*innen, Schulen, Vereine – alle gemeinsam.

Warum reden wir so selten über Suizid?

Viele schweigen über Depression und Suizid. Nach Emils Tod erzählten plötzlich viele ihre eigenen Geschichten den Eltern. Fast immer verbunden mit der Bitte: „Behalte das für dich.“

Für einige im Umfeld waren die Puhls die ersten Menschen, mit denen sie seit Jahren oder überhaupt über Suizid sprechen. „Die schiere Zahl der Geschichten hat uns allerdings erschreckt und sehr nachdenklich gemacht“, zählt Alix Puhl auf. 

Innerhalb kürzester Zeit hat sie mehr als 50 Gespräche zu Depression, Suizid und Suizid-Versuchen geführt. Und „jede und jeder leidet still und für sich“. Nach außen müsse alles funktionieren, Hochglanz und strahlendes Lächeln seien gefragt.

Dieses Schweigen ist gefährlich. Es verhindert offene Gespräche und damit auch Prävention. Nur wenn wir reden, können wir das Tabu brechen und Leben retten.

Warum machen wir uns gegenseitig als Gesellschaft etwas vor?

Alix Puhl

Alix und Oliver Puhl vor einem Baum
Doris Stickler

Was tun Alix und Oliver Puhl heute?

Zwei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes Emil gründen Alix und Oliver Puhl „tomoni mental health“. Tomoni bedeutet auf Japanisch „zusammen“. Ihre Mission: psychische Erkrankungen bei Kindern früh erkennen und das Umfeld befähigen, richtig zu reagieren.

Bis 2025 ist daraus ein Team mit rund 25 Mitarbeitenden geworden. Gemeinsam mit Expert*innen, Eltern und Jugendlichen entstehen:

  • Workshops
  • Schulprogramme
  • digitale Angebote

Im Podcast „Es braucht das ganze Dorf“ sprechen junge Menschen offen mit Psycholog*innen über mentale Gesundheit.

Wie können wir Kinder und Jugendliche besser schützen?

Alix Puhl betont: Es beginnt mit Hinsehen – Verhaltensänderungen bewusst wahrnehmen. Dann folgt das Nachfragen: „Wie geht’s dir wirklich?“ Und schließlich: Gesprächsräume schaffen, in denen Kinder ohne Angst reden können.

Woran erkenne ich, dass jemand Hilfe braucht?

Achte auf Verhaltensänderungen

  • Rückzug
  • auffälliges Essverhalten
  • Schlafprobleme
  • abrupte Interessenwechsel

Nicht jede Veränderung ist krankhaft, aber sie kann ein Hinweis sein.

Wie kann ich nachfragen, ohne zu nerven?

Stell offene Fragen und zeig' echtes Interesse: „Wie hast du dich dabei gefühlt?“ statt „Wie war die Mathearbeit?“. Erzähle auch von dir, um Gespräche auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Was mache ich, wenn mein Kind sagt: „Mir geht’s gut“?

Nicht entmutigen lassen. Dranbleiben und Routinen schaffen: z. B. beim Abendessen fragen „Was war heute das Schönste, was war das Blödeste?“. So entstehen Gesprächsräume, in denen Vertrauen wachsen kann.

Wann brauche ich professionelle Hilfe?

Wenn Leidensdruck anhält oder jemand länger über Wochen niedergeschlagen, erschöpft oder antriebslos wirkt. Dann lohnt es sich, mit Fachleuten zu sprechen – Schulsozialarbeiter*innen, Ärzt*innen oder Therapeut*innen.

Was können wir präventiv tun?

Vier Dinge stärken die seelische Gesundheit: 

  • gesunde Ernährung
  • ausreichend Schlaf
  • Bewegung
  • soziale Kontakte

Zeit mit Freund*innen ist wichtig – nicht als Störung, sondern als Ressource.

Frühe Hilfe bei Depression, Angststörungen oder Essstörungen kann Leben retten. Je früher die Diagnose, desto höher die Chance auf Behandlung. Alix Puhl erklärt: 75 Prozent aller psychischen Erkrankungen treten vor dem 25. Lebensjahr auf – genau deshalb ist Aufmerksamkeit so entscheidend.

Warum dürfen psychische Erkrankungen kein Tabuthema bleiben?

Familie Puhl hat die schlimmsten Folgen von Depressionen erleben müssen, sagt die Mutter. Neun von zehn Suiziden stehen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung. Diese sind behandelbar – wenn sie erkannt werden. Frühzeitige Hilfe ermöglicht ein gesünderes und selbstbestimmtes Leben.

Alix Puhl sagt: „Derjenige, der schweigt, nimmt dem, der zuhört, die Möglichkeit, sich einzufühlen“. Und damit auch die Chance, „Rücksicht zu nehmen“.

Solange seelische Erkrankungen in der Gesellschaft als peinliche Schwäche, als zu verheimlichende Blöße, als Drückebergerei behandelt würden, werde sich nichts ändern. Deshalb gilt: Reden wir über psychische Gesundheit. Brechen wir das Schweigen.