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Tabuthema: Als junger Mensch psychisch krank

So fühlt es sich an, psychisch krank zu sein

Mann steht vor fahrender Bahn. Er sieht einsam aus. Das Bild ist in einem bläulichen Farbton.
gettyimages/Cebas

Lean* hat eine bipolare Störung. Das heißt: Viel Kampf, Angst, Medikamente und eine nicht sicher planbare Zukunft. Ein Portrait.

Mit 15 Jahren merkt Lean (wir haben den Namen auf Wunsch geändert), dass etwas nicht stimmt, dass er psychisch krank ist. Er beginnt zu recherchieren, denn plötzlich sei seine Energiekurve nach unten gegangen. Außerdem habe er keine Lust und Freude mehr empfunden.

Als Teenager eine psychische Krankheit bekommen

Seine damalige Ersteinschätzung: Er hat eine schizoaffektive Störung. Das heißt: Lean erlebt starke Stimmungsschwankungen und Phänomene, wie Verfolgungserleben oder Halluzinationen. Die Diagnose bekommt er mit 19 Jahren.

Er habe sich nie erträumen lassen, wie sich das anfühlt, denn bis zum 15. Lebensjahr lebte er ein Leben ohne psychische Erkrankung. Mittlerweile steht die Diagnose: Bipolar-I-Störung.

Es gibt keinen einzelnen Grund für seine Erkrankung. Sie ist biologisch bedingt und ein hoher erblich bedingter Faktor scheint mitverantwortlich zu sein.

Bipolare Störung

Die Bipolare Störung bricht meist im jungen Erwachsenenalter aus. Wenn du extreme Stimmungsschwankungen kennst, die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen erreichst du anonymunter: 0800/55 33 33 55.

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Psychische Krankheiten sind häufig unsichtbar 

Während des Interviews sitzt der 30-Jährige gerade, mit einem aufgeschlossenen Lächeln auf den Lippen. Die dunklen, vollen Haare gestylt. Das Hemd schick. Auf den ersten Blick ein sympathischer, attraktiver und gesunder junger Mann.

Über seine Krankheit spricht er erst seit zwei Jahren im engsten Freundes- und Familienkreis. Deshalb gibt er mir das Interview auch nur, wenn er anonym sprechen kann. Zu groß sind die Ängste mit seiner Diagnose an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn Menschen mit psychischen Erkrankungen würden leider häufig als schwach angesehen oder schief angeguckt, sagt Lean.

Mehr junge Menschen werden psychisch krank

Chefarzt Prof. Dr. Markus Steffens in seinem Büro. Ein Portraitbild.
DGD-Klinik Hohe Mark

Das Interview findet im Büro seines behandelnden Arztes Prof. Dr. Markus Steffens statt, in der Klinik Hohe Mark, in Oberursel. Steffens betont, dass aktuell mehr junge Menschen psychisch erkrankt seien und stationär behandelt würden.

Das läge, grob gesagt, insbesondere an der starken Vereinsamung durch die Corona-Krise und den Folgen von zeitweise nur äußerst reduziert erfolgenden niedrigschwelligen Beratungsangeboten. Zugenommen hätten bei jungen Menschen insbesondere:

  • Depressionen
  • Essstörungen
  • Angststörungen
  • Sucht-Erkrankungen

Ich habe manchmal nicht die Kraft, meine Zähne zu putzen.

Bipolar heißt: Von enormer Antriebslosigkeit bis hin zu extremer Kreativität

Für Lean gibt es drei Ausnahmesituationen, die immer wieder sein Leben bestimmen:

  • die schwere depressive Phase,
  • die Manie und
  • psychosenahes Erleben (so definiert Chefarzt Steffens die dritte Ausnahmesituation).

Doch was bedeuten diese Phasen genau?

Bei der schwer depressiven Phase habe er keine Energie mehr und empfinde kaum etwas, auch keine Freude. Er schliefe länger und seine Hobbies machten ihm keinen Spaß mehr. Chefarzt Steffens ergänzt, dass Menschen nicht mehr „mitschwingen“ könnten, weder bei traurigen noch bei fröhlichen Erlebnissen: Als seien die Saiten einer Gitarre nicht gespannt.

Das krasse Gegenteil sei die Manie, erklärt Lean. In dieser Phase habe er viel zu viel Energie, schlafe kaum und das tagelang. Er sei kreativ und künstlerisch aktiv. Auch Höchstleistungen im Sport seien dann möglich.

Wahrscheinlich fühlt sich die Manie so ähnlich an, wie ein Rausch mit performancesteigernden Drogen.

Nach dieser manischen Phase fahre der Körper allerdings wieder komplett runter, die Energie sei weg und fehle dann.

Die dritte Ausnahmesituation sei das psychosenahe Erleben. Hierbei plagten ihn Wahnvorstellungen, wie Verfolgungsängste.

Anzeichen einer psychischen Krankheit

  • Dein Schlaf verändert sich drastisch. Du hast beispielsweise eine lange Phase, um einschlafen zu können. Oder du hast extrem kurze oder extrem lange Schlafphasen (verglichen mit deinem eigentlichen Schlafverhalten).
  • Dein Appetit verändert sich: Du isst extrem wenig oder extrem viel, dein Körpergewicht verändert sich drastisch, du leidest unter Heißhunger-Attacken.
  • Rückzug in die eigenen vier Wände: Du willst dich kaum noch mit Freunden treffen oder engagierst dich deutlich seltener in deinem Verein.
  • Interessen- und Freudeverlust
  • Du hast neue Ängste, die du noch nicht an dir beobachtet hast. 
  • Stärkere anhaltende Konzentrationsstörungen
  • Oder du hast den Eindruck, dass sich Dinge plötzlich sehr stark auf dich beziehen.

Quelle: Chefarzt Markus Steffens

13 Jahre Schweigen aus Angst vor Ablehnung

Über diese Situationen habe er als Teenager nie mit anderen Menschen gesprochen. Aus Angst nicht verstanden zu werden und weil andere denken könnten, er selbst sei Schuld an der Krankheit.

Er habe gelacht, obwohl er keine Freude empfand. Sei zu Treffen nicht gekommen und habe den wahren Grund für seine Abwesenheit, also seinen schlechten Gesundheitszustand, verborgen. Dadurch habe er auch Freund:innen und Freundeskreise verloren. Das sei im Nachhinein zwar traurig, aber er habe aus Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung so gehandelt.

Als er sich vor zwei Jahren traute, offen zu sprechen, wurde er von seinen besten Freund:innen nicht abgelehnt. Aber das Schwierige sei immer noch, dass diese Art von Krankheiten für andere Menschen nicht verständlich seien, weil sie es nicht nachempfinden könnten.

Lean bittet Menschen, die nicht betroffen sind, tolerant zu sein und anzuerkennen, dass psychische Erkrankungen ebenso schwere Erkrankungen seien wie andere schwere Erkrankungen. Er hasse deswegen auch den Unterschied zwischen psychischer und körperlicher Erkrankung: weil alles der Körper sei. „Wenn jemand sagt: ‚Ich habe Krebs‘, tut das allen Leid.“

Wenn ein psychisch Kranker sagt: ‚Ich bin psychisch krank‘, wird er schief angeguckt.

Leans Tipp: Sprich erstmal mit deinen besten Freund:innen, um so zu testen, wie es ankommt und man sich selbst mit der Offenheit fühlt.

Auch Chefarzt Steffens betont, dass es insbesondere hilfreich sei, positive Aktivitäten und Kontakte mit Menschen, die einem gut tun, zu fördern. Ein „Komm´ wir gehen Mal 20 Minuten zusammen raus“, sei schon eine große Hilfe. Außerdem auch über positive, verbindende Aktivitäten zu sprechen und zu unterstützen, therapeutische Hilfe suchen.

Klinik Hohe Mark hilft Lean bei seiner Erkrankung

Lean sei froh, hier in der Klinik bei seinem behandelnden Arzt alle zwei Wochen einen Termin zu haben. Hierbei ginge es zum Beispiel um den aktuellen Gesundheitszustand oder die Dosierung der Medikamente, die er täglich einnimmt. Aktuell habe er zum Beispiel die Vermutung und Sorge, dass es wieder einmal bergab gehen könnte. Darüber seien sie dann im Austausch.

Vergangenes Jahr war Lean für mehrere Monate stationär in der Klinik. Sein insgesamt vierter Klinikaufenthalt in fast zehn Jahren. Der aufgeräumt wirkende Mann betont, dass das bei seiner Diagnose normal sei. Aber genau das sei so leidig an dieser chronischen Krankheit, dass sie immer wieder kommen könne.

Wichtig: Zeit ohne Klinikaufenthalt lang und schön gestalten

Wenn Lean in einer Phase sei, wie während des Interviews, dann mache ihm das Leben Spaß. Aber lange planen könne er nie. Er habe auch schon einmal versucht sich das Leben zu nehmen, in einer schweren depressiven Phase.

Aktuell versuche er schöne Momente mitzunehmen. Sport und Kunst tun ihm gut, außerdem könne er in der Sauna gut entspannen. Achtsamkeitsübungen (unter anderem über Apps) würden ihm dabei helfen Stress vorzubeugen.

Er hat für eine klare Bitte für junge Menschen: „Macht euch eine Berufsunfähigkeitsversicherung, so früh wie möglich, damit ihr noch rein kommt!“ Er weiß genau, wovon er redet.

Seine Ziele: Anderen betroffenen Helfen und Bücher schreiben

Seit einem Jahr ist Lean berufsunfähig. Davor war er in der Wirtschaft tätig. Doch die hohe Arbeitsbelastung mit 70-80-Stunden-Wochen sei mit seiner Erkrankung auf Dauer nicht möglich gewesen.

Aktuell plane er seine Zukunft aufs Neue. Er würde gerne anderen Patient:innen helfen, als Genesungsbegleiter. Außerdem plane er eine Bücherreihe über die verschiedenen Diagnosen der psychischen Erkrankungen zu schreiben. Diese solle als Ratgeber dienen, mit Informationen und Tipps für Angehörige und Betroffene, auch z.B. als Vorbereitung für einen Klinik- oder Reha-Aufenthalt.

Sein Appell an junge betroffene Menschen: „Ihr seid nicht alleine und es muss euch nicht peinlich sein, habt keine Angst und lasst euch helfen.“

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