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Lübcke-Prozess

Ist der Verfassungsschutz auch beim Lübcke-Prozess auf dem rechten Auge blind?

Wolfgang Weissgerber
Kommentar von Wolfgang Weissgerber

Der Prozess rund um den Mord des Kasseler Politikers Lübcke zeigt vor allem eines: In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur rechtsextremistischen Terror, sondern auch ein Problem darin, wie wir mit diesen geistigen Brandstiftern umgehen. In seinem Kommentar warnt unser Chefredakteur vor allem vor den geistigen Brandstiftern dieser Ideologien.

Mit dem Urteil im Mordprozess an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist die unselige Angelegenheit – ungeachtet einer möglichen Revision – keineswegs erledigt. Im Gegenteil: Das Verfahren markiert hoffentlich und endlich den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die eigentlich längst begonnen haben müsste.

Will der Verfasungsschutz überhaupt über die rechtsextremen Strömungen Bescheid wissen?

Viel zu lange war der deutsche Staat auf dem rechten Auge blind. Spätestens nach der rechtsradikalen NSU-Mordserie unter arglosen Menschen mit Migrationshintergrund hätten Verfassungsschutz und Polizei wissen müssen, was sich da im braunen Sumpf zusammengebraut hat.

Doch die Verstrickung mancher Ermittler und ihrer V-Leute ins rechtsradikale Milieu wirft vielmehr die Frage auf, ob sie es überhaupt wissen wollten.

Rechter Terror bereits in den 1970er Jahren in Deutschland

Hintergrund zum Lübcke-Prozess

In der Nacht zum 2. Juni 2019 wurde der hessische CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen. Der Rechtsextremist Stephan E. hat die Tat gestanden. Das Frankfurter Oberlandesgericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Trotz Urteil und mehr als 40 Verhandlungstagen, bleiben viele Fragen offen. Alle Prozessbeteiligten haben Revision beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe beantragt.

An der nötigen Aufmerksamkeit haben sie es jedenfalls lange fehlen lassen. Bei der Terrorismusbekämpfung sahen die Behörden immer nur nach links, auf die Missgeburten der Studentenbewegung von 1968. Doch neben RAF, Bewegung 2. Juni und Roten Zellen gab es auch schon in den 1970er Jahren rechten Terror.

Eine Geschichte der Einzeltäter unter Neonazis

Der Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 war mit 13 Todesopfern und 221 Verletzten der bislang schlimmste Terrorakt in Deutschland. Seinen Urheber, ein Mitglied der Wiking-Jugend und der Wehrsportgruppe Hoffmann, stuften die Behörden trotz dieses Neonazi-Hintergrunds kurzerhand als Einzeltäter ein.

Befragen konnte man ihn nicht, denn seine Bombe hatte auch ihn selbst zerrissen. Erst 40 Jahre später ordnete die Bundesanwaltschaft den Anschlag nach neuen Ermittlungen eindeutig dem rechtsradikalen Milieu zu.

Wegsehen: Fehler in der NSU-Mordserie

Auch bei der NSU-Mordserie schauten die Ermittler lange nicht nach rechts, sondern lasteten sie einem angeblichen kriminellen Ausländermilieu an.

Den als rechtsextrem und gewalttätig bekannten Mann, der dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 eine Kugel in den Kopf jagte, wähnte der Verfassungsschutz als der Szene entwachsen.

Tausende Kasseler demonstrieren im Sommer 2019 nach der Ermordung von Walter Lübcke gegen Rechtsextremismus.
epd-bild/Andreas Fischer
Tausende Kasseler demonstrieren im Sommer 2019 nach der Ermordung von Walter Lübcke gegen Rechtsextremismus.

Machtloser Verfassungsschutz bei Anschlag in Hanau

Lübcke-Fall im Untersuchungsausschuss

Im Hessischen Landtag gibt es auch einen Untersuchungsausschuss zum Mordfall Walter Lübcke. Er will möglichen Versäumnissen der Sicherheitsbehörden nachgehen. Dabei soll ein Fokus auf das Umfeld der rechtsradikalen Szene in Nordhessen gelegt werden und ein mögliches Versagen des Verfassungsschutzes überprüft werden. Dabei hat der Untersuchungsausschuss maximal bis zum Ende der Legislaturperiode im Januar 2024 dafür Zeit. Ab Ostern 2021 sollen die ersten Zeugen befragt werden.

Gegen den Rassismus eines Geistesgestörten, wie der Attentäter von Hanau vom Februar 2020 es war, ist auch der Verfassungsschutz machtlos. Reichskriegsflaggenschwenker, glatzköpfige Parolenbrüller und völkisch faselnde Politiker und Politikerinnen hingegen verdienen seine ganze Aufmerksamkeit.

Denn Bier saufende Springerstiefelträger sind keineswegs nur irregeleitete Jugendliche, deren Gehabe sich wieder auswächst. Sie sind die nützlichen Idioten einer Ideologie, die 75 Jahre nach Weltkrieg und Holocaust wieder von einem arischen Deutschland träumt.

Der Einzug rechtspopulistischer Parteien in Politik ebnet Weg zu geistiger Brandstiftung

Diese Ideologie hat unter dem Deckmantel einer sich bürgerlich gebenden Partei Einzug in die Parlamente gehalten. Dort macht die sogenannte AfD hoffähig, was lange nur am Stammtisch gärte: Ausländerhass, Rassismus, Nationalismus.

Wer Leute erschießt in der irrigen Annahme, dem Vaterland damit etwas Gutes zu tun, mag von schlichtem Gemüt sein. Die geistigen Brandstifter aber sind es nicht.