Gesellschaft

Als Pflegekind aufwachsen: „Meine Eltern haben mich verlassen!“

Lissy lächelt in die Kamera
EMH

Suchtkranke Eltern, Kinderheim, Pflegefamilie: Das kennt Lissy. Sie erzählt von Sehnsüchten, Einsamkeit und dem langen Weg zur inneren Heilung.

Lissys Eltern sind suchtkrank. Ihr sechs Jahre älterer Halbbruder versorgt sie. Er wickelt die kleine Lissy in T-Shirts, weil es keine Windeln gibt. Er stiehlt Babygläschen im Supermarkt, weil sie nichts zu essen haben. „Er war in den ersten zwei Jahren mein Versorger“, erzählt Lissy Schneider. 

Dann kommt ihr nigerianischer Vater, der mit Drogen dealt, ins Gefängnis und wird abgeschoben. Ihre alkoholabhängige Mutter ist spätestens jetzt völlig überfordert. Sie bringt Lissy mit zwei Jahren ins Kinderheim. Ihr Halbbruder kommt später in ein anderes Heim. 

Man hat uns getrennt – wir hatten erst als Erwachsene wieder Kontakt!

Mit drei Jahren nimmt eine Pflegemutter Lissy auf – eine alleinlebende, gläubige Erzieherin. Dort wächst sie mit anderen Pflegekindern auf. „Heute bewundere ich ihren Mut“, sagt Lissy. Als Kind empfindet sie jedoch Strenge und Anpassungsdruck. „Sie hat uns geliebt, aber ich habe es nicht gespürt.“ 

Kindheit in der Pflegefamilie: Schwarzes Mädchen in einer Weißen Familie

Lissy zu Gast im Podcast Hoffnungsmensch
Hoffnungsmensch.de

Dennoch beschreibt Lissy ihre Kindheit im Podcast HOFFNUNGSMENSCH als grundsätzlich schön. Heute erinnert sich die 44-Jährige gern an die enge Freundschaft zu einer fast gleichaltrigen Pflegeschwester. Sie fühlen sich wie Zwillinge, gehen in die gleiche Klasse. 

Doch als Schwarzes Pflegekind bei einer Weißen Mutter hört Lissy oft, wie dankbar sie sein sollte. „Du kannst froh sein, dass…“, „Du wirst von meinen Steuergeldern finanziert…” – solche Sätze kommen nicht von ihrer Pflegemutter, aber von Lehrern, Nachbarn, Eltern von Klassenkameradinnen, in der Jungschar. 

Lissy stürzt das in eine Identitätskrise. Als Jugendliche fühlt sie sich oft einsam. „Ich dachte: Wäre es nicht besser, ich wäre nie geboren?“ 

Warum wir „Schwarz“ und „Weiß“ groß schreiben

Die Großschreibung zeigt: Es geht nicht um Farben, sondern um gesellschaftliche Konstrukte von Rassifizierung. „Schwarz“ und „Weiß“ markieren also politische Bezeichnungen für soziale Positionen, nicht biologische Merkmale. Deshalb nutzen wir die Großschreibung, um strukturelle Erfahrungen sichtbar zu machen. Die Wörter stehen damit nicht für eine zugeschriebene „Farbe“.

Eltern-Besuche im Gefängnis 

Lissy hat als Kind und Jugendliche immer wieder Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, die mal obdachlos ist, mal im Gefängnis sitzt. „Die Besuche dort haben mich verstört “, erinnert sie sich. 

Als Lissy 14 Jahre alt ist, stirbt ihre leibliche Mutter. Nachts liegt sie schluchzend im Bett. „Ich habe so sehr um sie geweint, obwohl ich sie nie als sicheren Ort empfunden habe und wir uns fremd waren.“ 

Sie kann ihre Gefühle nicht einordnen und beginnt, sie aufzuschreiben. Dabei erkennt sie: Sie trauert nicht um ihre wirkliche Mutter, sondern um das Idealbild einer Mutter

Damals ist meine Sehnsucht nach einer echten Mama gestorben.

Traumatherapie bringt die Wende

Das Schreiben hilft ihr, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Doch bis ins Erwachsenenalter trägt sie diese Schwere in sich, die niemand von außen bemerkt. Erst mit Anfang 40 beginnt Lissy eine Therapie. Sie merkt, dass sie ihr Trauma unbewusst an ihre drei Töchter weitergegeben hat, die in der Pubertät mit irrationalen Ängsten kämpfen.

Lissys Eltern sind suchtkrank. Ihr sechs Jahre älterer Halbbruder versorgt sie. Mit zwei Jahren muss sie in eine Pflegefamilie.
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In der Therapie erkennt Lissy, dass sie nicht nur ein Spielball ihres Lebens ist. „Die Therapie hat mir Stärke zurückgegeben und gezeigt: Ich habe viel geschafft!“ Nach jeder Sitzung fühlt sie sich leichter. Am Ende ist die Schwere verschwunden. „Das war krass und ein großes Glück“, erinnert sie sich. 

Innere Heilung: Ich bin gewollt 

Auch ihr Glaube verändert sich. „Ich habe mich immer gefragt: Wenn es einen Gott gibt, der es gut mit mir meint, warum bin ich dann in eine Familie geboren, die nicht mit mir zurechtkommt? Warum fühle ich mich an einem Ort, der sich kalt anfühlt?“ 

Was bedeutet dir deine Familie? Erzähl uns gerne davon in den Kommentaren auf Social-Media: 

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Sie ergänzt: „Lange konnte ich mit ‚Du bist gewollt, und Gott hat einen Plan für dein Leben‘ nichts anfangen. Erst mit meiner inneren Heilung hat das eine große Bedeutung für mich bekommen. Es ist mein Elixier!“

Neben ihrem Glauben gibt der 44-Jährigen vor allem die Familie Halt. Mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern lebt sie in Baden-Württemberg (Schorndorf): „Mein großes Glück ist, dass ich morgens aufwache und weiß: Ich bin geliebt.“

Lissys ganze Geschichte hörst du im Podcast HOFFNUNGSMENSCH 🔽.