Gesellschaft

Long-Covid und ME/CFS: Chronisch krank und chronisch übersehen

Wäscheleine mit Portraits von Betroffenen. Eine Frau steht vor den Fotos.
epd-bild/Christian Ditsch
Kundgebung zum internationalen „LongCovid Arwareness Day“ 2024 in Berlin

Plötzlich ist alles anders: Das Fatigue-Syndrom hat Renates Leben komplett ausgebremst – eine Krankheit, für die es kaum Hilfe gibt.

Stell dir vor, du fühlst dich den ganzen Tag kraftlos, hast Herzrasen und Schmerzen im ganzen Körper. Nachts kommst du auch nicht zur Ruhe und kannst nicht schlafen. Auf kleinste Anstrengungen, wie zum Beispiel Treppensteigen, reagiert dein Körper heftig.

Morgen ist es wieder so. Und übermorgen auch. Alle Symptome werden noch schlimmer. Selbst Licht ist für dich dann unerträglich. Arbeiten, Hobbys, soziale Kontakte, all das ist nicht mehr vorstellbar. Dein Leben ist plötzlich komplett anders und keine Medikamente schlagen an. Für Betroffene der Krankheit ME/CFS ist das die Realität.

Renate steht mit einem Schild an der Frankfurter Hauptwache. Darauf steht Trauergang. Im Hintergrund ist ein Banner mit der Aufschrift: ME/CFS-LongCovid - Anerkennung, Unterstützung, Forschung
privat
Im Februar 2024 hat Renate bei einer Demo auf das kaum erforschte und unheilbare Erschöpfungssyndrom ME/CFS aufmerksam gemacht. Kurz nach unserem Interview hatte sie nicht mehr genügend Kraft für ein aktuelles Foto.

Renate Knapp ist betroffen. Die 63-Jährige erkrankt im März 2022 an Corona. Nach einem normalen Verlauf beginnt sie kurz nach der Erkrankung wieder zu arbeiten. Doch schnell bemerkt sie, irgendetwas stimmt nicht: „Ich habe mich nicht mehr konzentrieren können, die einfachsten Dinge nicht mehr verstanden.“

Was das Fatigue-Syndrom mit Long Covid zu tun hat

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis -Chronisches Fatigue Syndrom, eine schwere Multisystemerkrankung, die den ganzen Körper betrifft. Ausgelöst wird die Krankheit in den meisten Fällen durch Viren wie zum Beispiel EBV, Influenza und auch COVID-19.

Demnach gilt ME/CFS auch als schwerste Form von Long Covid, ist aber nicht erst mit der Pandemie entstanden. Seit 1969 ist ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation als neurologische Erkrankung anerkannt.

Krankheit passt in kein Muster

Es gibt viele Symptome und die verschiedenen Krankheitsbilder sind noch kaum erforscht. Sie reichen von Nervenschmerzen über Benommenheit bis hin zu Blutdruckschwankungen und schwerer körperlicher Schwäche. In besonders schlimmen Fällen zählt außerdem eine Reizüberempfindlichkeit zum Krankheitsbild. ME/CFS verläuft in den meisten Fällen chronisch. Weil klinische Studien fehlen, existieren weder ein zugelassenes Medikament noch eine Heilung.

Frauen erkranken im Schnitt dreimal häufiger als Männer. Laut Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind aktuell mindestens 620.000 Menschen in Deutschland betroffen.

Es ist wie hinfallen und einfach nicht mehr aufstehen können“, beschreibt es Renate Knapp. Damals verschlechtert sich innerhalb kürzester Zeit ihre körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit stark. Sie verlernt Grundrechenarten und Sprechen kann sie nur noch 15 Minuten pro Tag. „Nichts ging mehr.  „Ich bin aus einem voll erfüllten Leben auf null heruntergebremst worden.“ Vor ME/CFS war Renate Knapp sehr aktiv, war als Selbstständige in der Marketing-Branche immer ihre eigene Chefin.

Alltag vor und nach ME/CFS

Die 5-fache Oma fuhr Motorrad, spielte Klavier und sang im Chor, war auf Reisen, arbeitete ehrenamtlich in ihrer Kirchengemeinde und hatte viele Freunde. „Mein Tag hatte früher nicht genug Stunden. Ich war immer auf Achse“, erinnert sie sich. „Heute kann ich das Haus nicht mehr verlassen, ohne mich intensiv darauf vorzubereiten. Zu Hause liege ich meistens im Halbdunkel im Bett. Umweltreize sorgen dafür, dass ich kollabiere.“

Was für andere Menschen im Alltag nebenbei passiert, ist für Menschen mit ME/CFS ein Kraftakt, erzählt Renate Knapp. Sie müsse an manchen Tagen abwägen, ob sie zum Beispiel besser kochen oder duschen, etwas aus dem Keller holen oder das Bett neu beziehen will.

Für alle Aktivitäten am Tag sei einfach keine Kraft da. „Gehe ich über meine Belastungsgrenze, crashe ich“, sagt sie, „Alleine zu akzeptieren, dass nichts mehr so ist, wie es mal war, hat bei mir lange gedauert. Ich war einfach nur wütend und frustriert.“

Renate Knapp ist im Alltag stark auf ihren Mann angewiesen. „Er fährt mich zu Arztbesuchen, erledigt einen großen Teil der Haus- und Gartenarbeit, geht einkaufen. Wir versuchen so, die Wege, die ich zurücklegen muss, möglichst kurz zu halten.“ Für diese Unterstützung sei sie dankbar. Renate Knapp zähle sich selbst zu denen, die Glück haben und mit ihrer Krankheit nicht alleine sind.

Laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS erhielten Betroffene in Deutschland wenig medizinische und soziale Versorgung. Die Dunkelziffer der Erkrankten ohne Diagnose sei hoch. Das deutsche Gesundheitssystem beachte ME/CFS nur unzureichend und verharmlose die Krankheit seit Jahrzehnten. Infolgedessen seien Fehldiagnosen bei Betroffenen an der Tagesordnung.

Chronisch krank, chronisch übersehen

„Am Anfang waren es die Wechseljahre, danach war ich einfach überarbeitet und schließlich hatte ich doch Depressionen“, berichtet Renate Knapp, als sie an ihre ersten vermeintlichen Diagnosen zurückdenkt. „Das hat alles nicht gepasst. Mein Umfeld hat angefangen zu recherchieren, mein Mann hat handschriftlich Arztgespräche protokolliert. Sie haben das nicht geglaubt.“

Renate Knapp selbst war damals nicht in der Lage, alle Informationen über ihren Zustand aufzunehmen. „Ich hatte zwei Jahre Nebel im Kopf.” Erst durch eine befreundete Intensivmedizinerin kommen Freunde und Familie auf ME/CFS. Sie findet einen Arzt, der die Krankheit kennt.

Die Behandlungen, die danach folgen, muss Renate Knapp aus eigener Tasche zahlen. „Ich wollte mir zu meinem 60. Geburtstag ein Klavier kaufen und hatte deshalb etwas gespart. Doch da ich mit der Krankheit weder die Kraft hatte, neue Stücke zu lernen, noch Musik überhaupt zu ertragen, gab ich das Geld für Therapien aus.“ Diese bekämpfen allerdings nicht die Ursache, sie lindern nur die Symptome.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS übernehmen die Krankenkassen keine Kosten. Angehörige müssen in vielen Fällen ihre nun schwerbehinderten Kinder, Partner*innen oder Eltern selbst pflegen, weil Pflegekassen die Schwere der Krankheit nicht anerkennen. Behörden lehnen Anträge auf einen angemessenen Grad der Behinderung, Hilfsmittel oder Sozial- und Versicherungsleistungen wie eine Erwerbsminderungsrente ab.

Kampagne #MillionsMissing

Die Betroffenen machen ihrem Ärger online Luft. Das Internet sei für viele die einzige Verbindung zur Außenwelt, sagt Renate Knapp. Auf Instagram tauschen sich die Mitglieder zum Beispiel in den Kommentaren bei @doc.nathalie.grams aus. Natalie Grams ist Ärztin und ebenfalls an ME/CFS erkrankt. Während sie auf ihrem Profil die Krankheit auch mal mit Humor nimmt, versucht sie dennoch, mehr Bewusstsein für die Lage der Betroffenen zu wecken. 

Und damit ist sie nicht allein. Auf die Lage der Erkrankten soll vom 10. Mai bis 12. Mai aufmerksam gemacht werden. Für diesen Zeitraum plant die ME/CFS-Initiative „Liegend-Demo“ deutschlandweit liegende Demonstrationen, Kundgebungen und Infostände in insgesamt zwölf deutschen Städten. Am 11. Mai auch in Frankfurt.

„Es braucht breite Aufklärung in Deutschland“, berichtet Renate Knapp. Sie engagiert sich in der Regionalgruppe „Liegend-Demo“ Rhein-Main. „Experten gehen von etwa einer Million Betroffener aus, wenn man Dunkelziffer und falsch diagnostizierte Betroffene einberechnet“, so Knapp.

„Grade die jungen, schwer betroffenen Menschen verlieren ihre Jobs und stehen in Deutschland ohne Unterstützung, ohne Therapie, ohne Versorgung und ohne Perspektive alleine da“, berichtet Knapp. „Sie haben keinen Partner, vielleicht auch keine Familie, die sich um sie kümmert und sind so komplett isoliert.“

Für viele sei dieser Leidensdruck einfach zu hoch. „Assistierter Suizid ist unter uns Erkrankten ein weit verbreitetes Thema. Wer mit ME/CFS Tag für Tag überlebt und noch nie darüber nachgedacht hat, der lügt.“

Wie begegne ich ME/CFS-Betroffenen?

Stell dich auf die Bedürfnisse von Betroffenen einst: Frag also vor deinem Besuch nach, was für die kranke Person angenehm ist. Manchmal hilft auch nur eine Textnachricht, die keine Antwort erwartet. Sei sensibel gegenüber Sinneseindrücken: Sprich zum Beispiel leiser, langsamer und weniger als sonst. Allgemein gilt: Lieber ein oder mehrere kurze Besuche als ein langer. Mehr Infos zum Umgang mit Erkrankten findest du unter ME/CFS und Post-Covid beim Zentrum Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. 

Am Montag, dem 12. Mai, ist der internationale ME/CFS-Tag. Auch die Evangelische Akademie Frankfurt macht darauf mit Informationsveranstaltungen und einer Ausstellung aufmerksam, die Kunst von Betroffenen zeigt.

Währenddessen beleuchten die Veranstaltenden das Gebäude im Rahmen der Aktion „LightUpTheNight4ME“ mit blauem Licht. Das sei ein Zeichen, dass die Betroffenen doch nicht alleine sind und nicht vergessen wurden, erklärt Renate Knapp. „Mit diesen Aktionen wollen wir daran erinnern, dass es uns gibt. Dass wir zwar leise und von der Welt abgeschirmt leben müssen, aber dass wir noch da sind und auf Heilung hoffen.“

Hast du schon mal was von ME/CFS gehört, oder ist das ganz neu für dich?

Schreib uns deine Gedanken zur Lage der Betroffenen. Gerne über unsere Social-Media-Kanäle: 

Instagram oder 

Facebook

Wenn du den Menschen direkt helfen möchtest, kannst du dich beispielsweise bei der Initiative „Liegend-Demo“ engagieren. Auf Instagram findest du alle Termine zu den Kundgebungen. Die Organisierenden sind so gut wie alle selbst von ME/CFS betroffen und auf körperliche Unterstützung sowie Spenden angewiesen und brauchen unter anderem Hilfe beim Auf- und Abbau.