Gesellschaft

Von der Förderschule in die Medien: Wie geht das?

Als Video-Journalist arbeitet Sebastian Herzberg für das Behindertenwerk Main Kinzig (BWMK).
Charlotte Mattes
Sebastian Herzberger auf Dreh.

Der Einstieg ins Arbeitsleben ist nie einfach. Für Menschen mit Behinderung gibt's extra Barrieren. Doch Inklusion funktionieren. Zum Beispiel in den Medien.

Sebastian Herzberger blickt beim Gehen konzentriert nach vorne. In seinen Händen hält der 33-Jährige eine Spiegelreflexkamera, der Tragegurt liegt zur Sicherheit um den Hals gelegt. Bei dem Termin heute soll nichts schiefgehen.

Auf dem Dreh für die Aktion „Schichtwechsel“ ist nur wenig davon zu merken, dass Sebastian eine Autismus-Spektrum-Störung hat und lernbehindert ist. Seine Augen scannen die Umgebung nach guten Motiven ab. Hat er etwas gefunden, das ihm gefällt, bleibt er stehen, findet die richtige Perspektive und drückt den Auslöser.

Wenig barrierefreie Ausbildungswege und Arbeitsplätze

Sebastian ist Video-Journalist und Fotograf. Er arbeitet im Team der Mediengruppe des Behinderten Werks Main Kinzig (BWMK) und hat dort auch seine Ausbildung als Mediengestalter abgeschlossen. Davor besuchte er eine Förderschule.

Dass er heute in den Medien arbeitet, zeigt, es gibt bisher wenige barrierefreie Ausbildungswege und Arbeitsplätze. In Deutschland gibt es nur wenige Projekte, die Medienschaffende mit Lern- oder geistiger Behinderung qualifizieren und begleiten.

Für die perfekten Bilder, geht Sebastian auch in die Hocke. Gruppenleiter Stefan Juraschek begleitet den Dreh.
Charlotte Mattes
Sebastian geht in die Hocke, um das perfekte Bild zu machen, während Gruppenleiter Stefan Juraschek den Dreh begleitet.

Das Behindertenwerk Main-Kinzig (BWMK)

Das BWMK ist ein Netzwerk, für Teilhabe uns Selbstbestimmung. Gefördert werden rund 50 Wohn-, Bildungs- und Arbeitsangebote für ein möglichst selbständig Leben. 

Vielfalt im Journalismus stärken

Inklusive Redaktionen, wie beispielsweise die BWMK, eine Zeitungs- und eine Radio-Redaktion in Bonn zeigen: Medien profitieren von Vielfalt. Wenn Journalismus aus unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln erzählen kann, stärkt das nicht nur die die Glaubwürdigkeit, sondern auch die Authentizität. 

„Für mich ist Routine in den Abläufen sehr wichtig“, sagt Sebastian. Wenn er nicht auf Terminen ist, beginnt sein Alltag in der Redaktion früh. Ab 8 Uhr recherchiert er in seinem Büro, hat Besprechungen oder Schulungen.

Besonders gern schneidet er Videos. Wie bei einem Puzzle reiht er die Aufnahmen so aneinander, dass ein Beitrag entsteht. Ist alles angeordnet, legt er Musik unter das Video oder bearbeitet die Bilder. „Ich war schon immer kreativ und hatte Interesse an Filmen. Beim Schneiden bin ich frei, die Projekte so umzusetzen, wie ich es möchte.“ 

Individuelle Förderung statt Anpassungsdruck

Begleitet und eng betreut werden Sebastian und seine Kollegen vom Leiter der Mediengruppe, Teamleiter Stefan Juraschek. Er fährt auch, mit Sebastian auf Drehterminen „Herr Herzberger macht eine super Arbeit.“ 

Lernbehinderung

  • Lernbehinderungen sind langfristige Beeinträchtigungen beim Lernen und Verarbeiten von Informationen.
  • Ursachen und Ausprägungen sind unterschiedlich.
  • Die Auswirkungen sind individuell.

Dieser schätzt die Professionalität seines Mitarbeitenden: „Er kann meistens genau umsetzen, was ich mir von unseren Medienprodukten vorstelle.“ Ihm ist es wichtig, die Mitglieder seines dreiköpfigen Teams individuell zu fördern.

„Jeder hat bei uns spezielle Aufgaben. Dem einen macht Bildbearbeitung Spaß, der andere findet Animationen und Grafiken toll.“ Er betont: „Bei uns findet jeder Arbeit und bekommt die Möglichkeit, immer besser in seinem eigenen Spezialgebietzu werden.“

Sebastians Beiträge erscheinen innerhalb des BWMK-Intranets und im Mitarbeitermagazin. Auch an den schwarzen Brettern hängen seine Fotos.

Behindertenwerkstätten in Deutschland

  • Laut „Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen“ gibt es in Deutschland rund 3.000 Werkstätten.
  • In den Werkstätten arbeiten 300.000 Beschäftigte und rund 70.000 Fachkräfte.
  • 75 % der Werkstattbeschäftigten sind Menschen mit einer geistigen Behinderung, 22 % haben eine psychische und 4 % haben eine körperliche Beeinträchtigung.

Quelle: Jahresbericht 2024 (PDF)

Über, von und für Menschen mit Behinderung berichten: Das sei das Hauptziel der Mediengruppe, sagt Stefan. Er erklärt, dass Journalismus für alle zugänglich sein könne, wenn die Arbeitsbedingungen inklusiv sind: „Meine Leute schaffen das.“

Im eigenen Lerntempo zum Erfolg

Um Video-Journalisten zu werden, brauchen Menschen unterschiedlich lange Zeit. Es geht darum: 

  • neue Aufgaben zu verstehen
  • sich selbst Dinge anzueignen
  • erste Erfolge zu erzielen

Zeit, die in regulären Beschäftigungsmodellen nicht eingeplant ist. Innerhalb der Mediengruppe bekommen die Journalisten eine ruhige Arbeitsumgebung, mit klaren Strukturen. Es gibt zum Beispiel keine aktuellen „Breaking News“, Live-Berichterstattungen oder Multitasking. Das nimmt den Druck.

Selbst Lösungen finden – selbstbewusst handeln

So löst Sebastian zum Beispiel Probleme bei der Arbeit selbst. Fragen zur Video-Schnittsoftware oder zur Bedienung seiner Kamera beantwortet er in dem er Tutorials auf YouTube ansieht. Selbsterarbeitete Lösungen sind wichtige Erfolgserlebnisse, erklärt Stefan.

Fokussiert und routiniert: Sebastian fotografiert und filmt.
Charlotte Mattes
Mit sicherem Blick und ruhiger Hand fotografiert und filmt Sebastian.

Hindernisse eigenständig überwinden, Projekte realisieren und gemeinsam mit anderen im Team arbeiten, dass motiviere alle in der Redaktion. „Man kennt es doch. Auf sich selbst stolz sein zu können, das gibt einfach Power.“, sagt Stefan.

Selbstwirksam im Job arbeiten

Das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen steigen, wenn Menschen über sich hinauswachen. Dies Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, ist weiterer Schritt zu gleichberechtigter Teilhabe und einer barrierearmen Gesellschaft. 

Inklusion und Barrierefreiheit werden in den Medien oft gefordert. Aber sind Fernsehen, Radio und Co. wirklich inklusiv, wenn Menschen mit Behinderung dort kaum mitarbeiten?

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