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Wohnentrend in Corona-Zeiten

Wohntrend Tiny Houses

Leben auf wenigen Quadratmetern in einem Tiny House
gettyimages/Svetlana Mokrova

Kennst du Tiny Houses? Auf wenigen Quadratmetern schlafen, essen oder arbeiten. Wir stellen dir den Trend vor.

von Florian Riesterer

Wolfgang Barthel löst einen Riegel an der Wand über dem Esstisch. Scheinbar aus dem Nichts klappt ein Bett hervor, die Tischplatte verschwindet unter der Matratze. „Ein italienisches Patent“, sagt der Architekt.

Leben ohne großen Wohnraum im Tiny House.
Getty Images/Jeremy Poland

Die Idee ist platzsparend. Schließlich hat das Tiny House nur 20 Quadratmeter auf zwei Ebenen. Und das barrierefreie Bad und die Küchenzeile brauchen Platz. Zwei solcher Häuser haben Barthel und seine Frau Annette, ebenfalls Architektin, im rheinland-pfälzischen Dorf Altleiningen konzipiert und bauen lassen, um sie an Geschäftsreisende oder Touristen zu vermieten.

Der Trend Tiny House ist in Deutschland angekommen

Das Ensemble komplett macht die danebenliegende „Tiny Church“, das ehemalige Gotteshaus der Mennonitengemeinde. „Man kann mich mieten“, verkündet ein Zettel am Hauptportal.

Das Gestühl ist verschwunden. Stattdessen können dort jetzt Gäste schlafen, auf einer Ausklappcouch neben der Kanzel oder auf der neuen hölzernen Empore - eine Reminiszenz an alte Dorfkirchen. „Der Ort soll seine spirituelle Qualität behalten, kein Massenlager werden mit zwölf Trunkenbolden“, sagt Wolfgang Barthel. Förderung erhielt er von der EU.

Neue Wohnformen und Wohnorte im Blick

Tiny Houses - auf nur wenigen Quadratmetern leben und eine gewisse Mobilität behalten: Seit einigen Jahren ist der Trend in Deutschland angekommen. Rund 500 Häuser kommen pro Jahr dazu.

„Corona hat den Trend noch einmal verstärkt“, sagt Regina Schleyer, Architektin und Vorsitzende des deutschen Tiny House Verbands: „Homeoffice hat die Menschen über andere Wohnformen und Wohnorte nachdenken lassen.“

Der Traum von Tiny-House-Glück

2018 organisierte der Verband eine erste Messe für Hersteller und Interessenten in Karlsruhe: „Mit fünf, sechs Häusern als Teil einer Designmesse.“ 2019 waren es schon dreimal so viele Häuser, 2022 soll ein erstes Tiny-House-Festival stattfinden. Der Verband will Berater, Dienstleister, Architekten, Versicherer, Banken und Tiny-House-Vereine vernetzen.

Wobei mangelnde Nachfrage nach den Häusern kein Problem ist, wie ein Blick ins Internet zeigt. Ob in Bielefeld, im bayerischen Zwiesel, in Bremen oder im hessischen Trebur: Überall träumen Einzelpersonen oder gleich ganze Vereine offenbar vom großen Tiny-House-Glück. Nur fehlen oft geeignete Grundstücke. Dass der Begriff rechtlich nicht klar definiert ist, macht es nicht einfacher.

Auch für ein kleines Tiny House brauchst du eine Baumgenehmigung

Baurecht und die Dauernutzung von Grundstücken sind in Internetforen häufige Themen. Denn ein Tiny House, das dauerhaft bewohnt wird, braucht fast immer eine Baugenehmigung. „Wir sind an einer Legaldefinition des Begriffs für eine Baurechtsänderung bei mobilen Wohnformen dran“, sagt Schleyer. Sie freut sich über jede Kommune, die Grundstücke für Tiny Houses anbiete, zuletzt Offenbach an der Queich und Unterammergau. Doch noch seien es zu wenige.

Das spürt auch Madeleine Krenzlin. Mit ihrem Unternehmen IndiViva berät sie seit vier Jahren Interessenten und Hersteller in ganz Deutschland. Für Kommunen bietet sie eine Gemeindesprechstunde an. Schließlich sei das Grundstück bei der Beratung der künftigen Bewohner ein Knackpunkt. 

Viele haben anfangs unrealistische Vorstellungen.

Madeleine Krenzlin

Nicht wenige träumten von einem Ort am Waldrand oder in den Weinreben, fernab der Zivilisation. Fotogeshoppte Bilder auf Instagram tun für diese Vorstellung ihr Übriges.

„Das entspricht nicht der Realität“, sagt Krenzlin. Standorte bräuchten immer eine Anbindung, allein wegen der Versorgungsleitungen. „In den Gesprächen muss ich da manchmal den Buhmann spielen.“ Die Frage sei außerdem: „Wollen wir denn eine total zersiedelte Welt?

Weniger Konsum, weniger Kosten

Ballast abwerfen, kostengünstiger wohnen, mit diesen Wünschen kommen die meisten. Oft sind es Menschen im dritten Lebensabschnitt. Etliche alleinstehende oder wieder alleinstehende Frauen sind darunter, die den finanziellen Einbruch mit Beginn der Rente abfedern möchten.

Viele begleitet Krenzlin in der Loslösung von einer klassischen Wohnung. „Das geht teilweise über Jahre.“ Auch Krenzlin hat diesen Prozess hinter sich. Nach dem plötzlichen Tod ihres Bruders vor einigen Jahren stellte die Diplom-Kulturwirtin vieles infrage. Am Ende stand der Wunsch, „Zeit zu haben mit den Menschen, die mir wichtig sind“. Außerdem erinnerte sie sich an ihren Kindheitstraum, Architektin zu werden.

Trotz wenig Platz im Haus viel Platz für Leben

Krenzlin kündigte ihren Job im Solarbereich, zog in den Ort ihrer Kindheit zurück. Unter anderem mit ihrem Vater baute sie dort ein Tiny House. Erstes Wissen hatte sie sich in einem Workshop in den USA angeeignet.

In einem kleinen Haus zu wohnen, bedeutet für sie nicht Rückzug von den Menschen, im Gegenteil. Ihr Haus hat sie so konzipiert, dass offene Küche und Esstisch zum gemeinsamen Kochen und Essen mit Freunden einladen. Überhaupt, sagt Krenzlin, brächten sich Tiny-House-Bewohner gerne ein, in Vereinen, in die Gesellschaft.

Lange duschen? Geht nicht mehr

„Sie brauchen ja Räume, um sich zu entfalten“, so ihre Theorie. Größere Projekte wie das Ecovillage Hannover mischten so auch Tiny Houses, Wohngemeinschaften und Wohnungen. Immer geht es dabei um gelebte Nachbarschaft und Umweltbewusstsein. Der reduzierte Platz führe auch zu einem überlegteren Konsum, sagt Krenzlin.

Kürzlich entschied sie sich wegen eines Fernsehauftritts für eine neue schwarze Jeans: „Jetzt finde ich in den drei Regalfächern dafür keinen Platz.“ Auch das warme Duschen ist limitiert:

Die Therme hat nur Warmwasser für vier Minuten.

Madeleine Krenzlin

Geringere Verbrauchskosten machen sich auch bei anderen Tiny-House-Bewohnern bemerkbar. „Ich zahle nur noch halb so viel wie vorher“, sagt Michele Paldino. 9,50 Meter mal 2,55 Meter misst sein Tiny House mit Tonnendach auf dem Naturcampingplatz Albtal im Schwarzwald. Rund 36.000 Euro hat der 53-Jährige dafür bezahlt.

Vieles allerdings, wie Bodenverlegen und Steckdoseninstallieren, erledigte er damals selbst. Er hat einen separaten Gefrierschrank und eine Waschmaschine, Internet und Fernsehen sowieso.

„Viele sind erstaunt, wenn sie das sehen“, sagt Paldino. Manch einer habe vielleicht noch Klischees von Wagenburgbewohnern im Kopf, mutmaßt er.

Das Aussortieren vor dem Auszug aus einer 75-Quadratmeter-Wohnung habe aber auch wehgetan, gibt der Hobbymusiker zu. Viele Geräte seines Home-Recording-Studios hat er verkauft, einige bei einem Freund eingelagert. In seinem Tiny House singt und produziert er weiter: mit Mikrofon, einem kleinen Digitalpiano und einem Laptop. Bei den Kleidern tat er sich leichter. Sechs gelbe Säcke voll gingen an die Kleidersammlung.

Wirklich ökologischer ist das Tiny House nicht

Zwei Jahre lang hatte er zuvor nach einem Platz gesucht, Campingplätze dabei lange ausgeklammert. Jetzt ist er froh, dass er auf den Tiny-House-Verein Karlsruhe und sein Projekt bei Waldbronn gestoßen ist. Zehn Gleichgesinnte leben dort, mit zehn unterschiedlichen Häusern.

Dass Tiny Houses nicht die Lösung der Wohnungsnot sind, weiß Paldino - genauso wie Beraterin Krenzlin, Verbandsvorsitzende Schleyer oder das Architektenehepaar Barthel. Genauso differenziert muss man das Thema Nachhaltigkeit betrachten. „Ein Tiny House ist nicht per se gut“, sagt Krenzlin. „Wenn ich ein super gedämmtes Haus erbe, ist das ökologischer als der Bau eines neuen Tiny Houses.

Dazu kommt, dass es viel Haustechnik für letztlich wenig Platz benötige, berichtet Architekt Barthel. Er sieht die Wohnform als Nische, Lösung für spezielle Situationen. Etwa für ein Paar, das seine Ehe rettet, indem es nahe beieinander lebt und dennoch getrennt wohnt. Oder für Kinder, die sich um die Eltern kümmern möchten, aber nicht unter einem Dach leben können oder möchten - das zumindest seien die Motive seiner aktuellen Tiny-House-Auftraggeber.