Gesellschaft

„Ich habe mit 55 Jahren lesen und schreiben gelernt“

Blick über die Schulter der Patientin zu dem Empfang einer Arztpraxis. Während eine Frau im Hintergrund Papiere sortiert, reicht ein junger Mann der Patientin Unterlagen.
gettyimages/SolStock
Gerade in Praxen bekommt man oft Papierkram mit

Dan Mohr kann sein halbes Leben lang nicht allein Zug fahren, zum Arzt muss immer jemand mitkommen. Erst im Alter kommt der Wendepunkt.

von Teresa Kammerlander

Dan musste 55 Jahre alt werden, bevor er den ersten Fuß in die Welt des Lesens und Schreibens gesetzt hat. Schuld daran: seine besten Freunde Rudi und Ralf. Scheinbar zufällig spazieren sie an der Volkshochschule Mainz vorbei. Sie müssen „kurz was nachgucken“.

Auch Erwachsene können noch lesen und schreiben lernen

Plötzlich steht eine fremde Frau vor Dan Mohr. „Das ist deine neue Klassenlehrerin“, sagen die Freunde. Dan ist verwirrt. Die Lehrerin ermutigt ihn: „Komm doch mal mit.“ So bekommt sein Leben eine völlig neue Wendung. 

Kindheit voller Mobbing und Sprachfehler

Dan mit seinem Kickerheft
privat

Als Kind bekommt Dan kaum ein Wort raus. Er hat einen Sprachfehler. Deswegen wird er in der Schule gemobbt, zwei Mal bleibt er sitzen. Als er mit 14 Jahren „endlich“ die Schule verlassen, fällt ihm ein Stein von der Brust. 

Das hat sein Großvater auf dem Schulamt durchgesetzt, weil er gemerkt hat: Die Schule bringt Dan nichts. Zu dem Zeitpunkt kann er weder lesen noch schreiben.

Der Jugendliche fängt an, bei einem Dachdecker-Betrieb zu arbeiten, zunächst ohne Ausbildung. Nach einem halben Jahr fragt ihn sein Chef direkt: „Stimmt das, dass du nicht lesen und schreiben kannst?“ – „Ja“, gibt Dan kleinlaut zu. 

„Das ist kein Problem, du musst keine Angst haben“, ermutigt ihn der Vorgesetzte. Dan kann im Betrieb die Ausbildung zum Dachdecker machen. Die Kollegen unterstützen ihn dabei. Seine Prüfung darf er mündlich ablegen, die schriftliche wird ihm erlassen.

Warum du den Begriff „Analphabetismus“ besser vermeidest

„Es ist total stigmatisierend. Es wäre besser, zu sagen: ‘...die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben’, erklärt Stefan Wälte. Der Experte spricht oft mit Betroffenen und fasst ihre Wünsche damit zusammen. 

Hindernisse beim Bewerbungen schreiben müssen

39 Jahre lang arbeitet Dan in dem Betrieb. Dann verkauft der Sohn die Firma. Plötzlich muss er Bewerbungen schreiben, aber wie? „Das konnte ich alles nicht.“

Seine Freunde Rudi und Ralf haben genug und greifen ein. Sie melden ihn bei der VHS an und Dan macht erst mal mit. Am liebsten will er nach 3-4 Terminen wieder hinschmeißen. Da drohen seine Freunde: „Wenn du das machst, helfen wir dir nie wieder.“ Bis dahin haben die beiden ihm bei allerlei Schreibkram geholfen, etwa bei Formularen beim Arzt.

Also zieht Dan den Kurs durch. Zwei Mal pro Woche geht er in die „Schule“. Zwei weitere Male übt er mit seinen Freunden.

Etappensieg nach vier Jahren

Nach vier Jahren feiert Dan einen Etappensieg. Bei seinem Weihnachtsurlaub mit seiner Frau Ursula in Gran Canaria liest er zum ersten Mal in seinem Leben die Zeitung. Eines Morgens bringt ihm seine Frau dafür die Bild-Zeitung mit.

Lies´ mir mal was vor“, sagt Ursula. Da setzen sich die beiden auf die Terrasse und Dan tut es. „Sie war so stolz“, erinnert er sich.

Schulabschluss mit 63 Jahren

Wieder zuhause geht es weiter. Nach acht Jahren kann Dan endlich schreiben. Fertig mit der „Schule“! Am letzten „Schultag“ überraschen ihn Ursula, Ralf und Rudi mit einer Abschlussparty.

Die letzten Jahre seiner Berufstätigkeit arbeitet Dan als Maler und Lackierer. Knieprobleme führen zur Erwerbsunfähigkeit. Inzwischen ist der 67-Jährige in Rente.

Das ALFA-Mobil mit seinem Stand und mehreren Aufstellern
ALFA-Mobil
Mai 2022: Dan am ALFA-Mobil

Beim ALFA-Mobil andere Betroffene erreichen

Heute engagiert Dan sich ehrenamtlich für Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie er. In Deutschland gibt es laut der LEO-Studie der Uni Hamburg über 6,2 Millionen Erwachsene, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben.

Was ist das ALFA-Mobil?

  • Macht deutschlandweit auf Probleme beim Scheiben und Lesen aufmerksam
  • Stellt lokale Angebote vor
  • Getragen vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung in Münster
  • Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 

👉 Ziel: Betroffene erreichen, Scham abbauen, Teilhabe ermöglichen. Zur Website vom ALFA-Mobil

Mit dem sogenannten „ALFA-Mobil“ möchte Dan das ändern. Es tourt durch ganz Deutschland und erzählt die Erfolgsgeschichten solcher Menschen. Dan ist regelmäßig bei den Aktionen dabei. 

„Die ersten Male stand ich immer nur daneben und habe kaum was gesagt.“ Aber inzwischen traut er sich auf andere zuzugehen und von seiner Geschichte zu erzählen. Dadurch verbessert sich sogar sein Sprachfehler. Als „Lernbotschafter“ ermutigt er andere, dass es nie zu spät ist.

Warum Nichtlesen stigmatisiert

Stefan steht am ALFA-Mobil-Stand in Offenbach
Teresa Kammerlander

Viele Menschen schämen sich, wenn sie weder lesen noch schreiben können, sagt Stefan Wälte. Er arbeitet seit neun Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim ALFA-Mobil. 

Sein Vergleich: Mathe. Darin darfst du schlecht seindas verstehen die anderen. Aber wenn jemand nicht lesen und schreiben kann, dann sei schnell der Stempel da. „Die Leute denken dann: Die Person muss dumm oder faul sein und beides ist überhaupt nicht der Fall.“

Auswirkungen, wenn jemand nicht lesen & schreiben kann

Gesundheitliche Risiken: Menschen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz gehen seltener zum Arzt, verstehen Beipackzettel und Formulare oft nicht und haben dadurch mehr gesundheitliche Probleme. 

Soziale Folgen: Viele Betroffene erleben Frust, geringes Selbstwertgefühl, Versagensängste und das Risiko für Depressionen steigt. 

Bildung & Teilhabe: Leseschwierigkeiten führen nicht nur zu schlechteren Schulleistungen, sondern auch zu geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Deswegen freut er sich über alle, die beim ALFA-Mobil vorbei kommen. Wenn sie sich helfen lassen, gewinnen sie Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe

Wegen der Angst vor Formularen, die sie ausfüllen müssen oder Beipackzetteln, die sie nicht verstehen, gibt es oft gesundheitliche Risiken. Stefan Wälte findet es erschreckend, dass in einem Land wie Deutschland mit einem recht guten Bildungssystem „doch so viele Menschen durchgerutscht sind und ihr Leben lang benachteiligt sind.“

So ging es auch Dan. Jetzt traut er sich endlich, alleine Zug zu fahren. Früher musste ihm immer jemand die Haltestellen-Schilder vorlesen. Auch an den Führerschein wagt er sich und als er beim Arzt das erste Mal einen Fragebogen selbst ausgefüllt hat, „da war ich so stolz auf mich!“

Kennst du Betroffene?

Kennst du auch jemanden, der betroffen sein könnte? Stefan Wälte weiß, welche Anzeichen dafürsprechen:

  • Wenn jemand beispielsweise ein sehr verzerrtes Schriftbild hat.
  • Wenn jemand regelmäßig sagt, er nimmt die Unterlagen nach Hause oder bringt sie seinem Ehepartner.
  • Wenn jemand häufig den Satz sagt: „Ich habe meine Brille nicht dabei, ich nehme das mal mit.“

In solchen Situationen kannst du die Person gerne ans ALFA-Mobil vermitteln. Schau einfach, ob das ALFA-Mobil auch in deine Stadt kommt oder ruf beim ALFA-Telefon an unter: 0800 53 33 44 55