Anzeige
Anzeige
Rückzug aus Afghanistan

Wie umgehen mit der Schuld?

Andrea Seeger
Kommentar von Andrea Seeger

Was wird aus den Afghanen, die der Westen zurückgelassen hat? Es geht um viel Leid und viel Hilflosigkeit. Das lässt niemanden kalt.

Die Evakuierungsaktion der Bundeswehr in Afghanistan ist zu Ende. Die Lage dort wird immer unübersichtlicher und gefährlicher. Noch immer warten viele verzweifelte Menschen – Deutsche und Ortskräfte – darauf, das Land verlassen zu können.

Der Evakuierungseinsatz am Flughafen von Kabul

Es war laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) der größte Evakuierungseinsatz der Bundeswehr: 5.347 Menschen Menschen hat die Luftwaffe seit dem 16. August aus Kabul ausgeflogen, darunter mehr als 4.000 Afghaninnen und Afghanen. Am 27. August starteten die letzten Militärmaschinen nach einem schweren Terroranschlag vor dem Kabuler Flughafen. Die USA haben am 31. August ihren Evakuierungseinsatz beendet. Bis zu 600 deutsche Soldaten waren an dem Einsatz beteiligt. Tausende Menschen haben es aber nicht aus dem Land geschafft. (epd)

Das kann jetzt nur noch funktionieren, wenn die Verantwortlichen mit den Taliban verhandeln. Das wird kosten – Geld und vermutlich auch Zugeständnisse. Es ist eine Schande, dass es so weit kommen musste. Wer aber ist schuld an diesem Desaster?

Sind alle „ein bisschen Schuld“ an der Lage in Afghanistan?

Kanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumen ein: Die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft habe die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt. Da gebe es nichts zu beschönigen. Wenn alle ein bisschen schuld sind, trägt sich die Last wahrscheinlich leichter.

Die Klärung der Schuldfrage muss warten – bis nach der Bundestagswahl am 26. September. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat allerdings schon angekündigt, ihren Kopf hinhalten zu wollen. Sie werde sich sehr genau überlegen, welcher Verantwortung sie gerecht geworden sei und welcher nicht – und welche Schlüsse sie daraus ziehen müsse. Dabei wird es ihr kaum helfen, dass sie nach Taschkent geflogen ist, um die letzten Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan auf ihrem Heimweg zu begleiten.

Nach dem Ende der Bundesregierung werden die Posten eh neu verteilt

Die Amtszeit von Merkel endet sowieso. Die Posten der Verteidigungsministerin und des Außenministers dürften – egal wie die Wahl ausgeht – neu besetzt werden. Wenn die Lichter der Kameras aus sind, die Mikrofone abgestellt, die Laptops in den Taschen der Journalistinnen und Journalisten verstaut sind, werden sich vermutlich auch viele andere Beteiligte in diesem Debakel fragen, ob und wie sie sich mitschuldig gemacht haben.

Politiker sind Menschen, keine Maschinen. Für sie zählen bei dem, was sie tun, nicht nur Abdrucke in der Presse, Auftritte in Funk und Fernsehen, Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl, auch wenn das mitunter so aussieht.

Politikerinnen und Politiker im Kreuzfeuer

Politikerinnen und Politiker engagieren sich für das Gemeinwohl, sind Familienmenschen, ausgestattet mit Empathie, Gerechtigkeitsempfinden und einem Gewissen. Sie müssen jetzt aushalten, dass durch ihre Fehleinschätzung Menschen ermordet wurden, andere leiden müssen und sterben werden. Sie müssen es aushalten, nicht zu ihrem Wort gestanden zu haben. Sie müssen es aushalten, Menschen, die an sie geglaubt haben, verraten zu haben.

Wie gehen sie damit um? Und wie gehen Soldatinnen und Soldaten damit um, dass sie schutzbedürftige Menschen im Stich lassen mussten? Dass sie geschehen lassen mussten, wie alles, wofür sie gekämpft haben, nichtig wurde?

Niemand ist schuldlos

Wer glaubt, dürfte sich damit leichter tun. In dem Gebet, das Christen weltweit verbindet, heißt es: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Jesus lehrte, dass niemand ohne Schuld ist – wie immer sie im Einzelfall zu bemessen ist. Gott vergibt Schuld. Im Wissen darum können sich Scham und Druck lösen, Menschen können ihre Schuld eingestehen und konstruktiv verarbeiten.

Aus den Fehlern lernen

Vergebung löscht das Geschehen nicht von der Festplatte. Aber sie macht den Weg frei, neu anzufangen. Wem vergeben wird, kann sich ermutigt fühlen, das Positive an diesem Verarbeitungsprozess weiterzugeben. Und kann weitersuchen nach Möglichkeiten, Gerechtigkeit oder Frieden zu schaffen. Geduldig. Beharrlich. Mit mehr Vernunft. Mit mehr Fantasie. Und mit der festen Absicht, fortan zu seinem Wort zu stehen. Und vor allem mit einer genauen Analyse des Geschehens, um aus diesen Fehlern zu lernen.