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Problem „24-Stunden-Pflege“

24h Pflege: Familien stehen vor einem Dilemma

Renate Haller
Kommentar von Renate Haller

Ohne die Menschen aus Osteuropa, die Hundertausende alte Menschen in deren Zuhause betreuen, funktioniert das deutsche Pflegesystem nicht. Vor den oft illegalen Arbeitsverhältnissen verschließt die Politik seit Jahren die Augen. Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht mit einem Urteil aufgeschreckt.

Das Urteil zur sogenannten „24 Stunden-Pflege“ schlug ein, produzierte Schlagzeilen – und Ängste. Letztere vor allem bei den Familien, die eine solche Pflege für ihre Angehörigen organisiert haben. Das längst überfällige Urteil des Bundesarbeitsgerichts sagt aus, dass der Anspruch auf Mindestlohn auch für Pflegekräfte besteht, die sich 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche um Menschen in deren Zuhause kümmern. Das gilt auch für Bereitschaftszeiten.

Das sitzt. Für einen Tag sind dann 230 Euro fällig, für sieben Tage 1.610 Euro. So viel bekommen die osteuropäischen Frauen, die diese Arbeit überwiegend leisten, etwa für einen ganzen Monat, mal mehr, oft auch weniger. So genau weiß das niemand. Grobe Schätzungen gehen von bis zu 600.000 dieser Arbeitsverhältnisse in Deutschland aus, viele davon sind illegal.

Die Familien handeln oft aus Not

Nun muss man den Familien, die ein illegales Arbeitsverhältnis anbieten, nicht Geiz oder Boshaftigkeit unterstellen. Es ist oft schlichte Not.

Es gibt inzwischen legal arbeitende Vermittlungsagenturen, die sich um alles kümmern. Aber das ist erstens teurer und zweitens können die Agenturen – seriös – keine 24 Stunden-Kraft vermitteln. Manche weisen schon auf ihren Internetseiten darauf hin, andere tun das nicht. Für eine aufwendige Betreuung brauche man mindestens zwei Kräfte, sagt Dorothea Foks, Mitarbeiterin von „FaireCare“, einem Vermittlungsdienst im Verbund der Diakonie Württemberg. Dafür wären bei ihrem um Transparenz und Fairness bemühten und christlichen Werten verpflichtetem Arbeitgeber rund 6.000 Euro im Monat fällig. Bei echter „Rund um die Uhr-Betreuung“ muss man von etwa 9.000 bis 10.000 Euro ausgehen. Wer kann das bezahlen?

System der Ausbeutung

Angehörige und Pflegekräfte gleichermaßen stecken in einem Dilemma. Ein hilfsbedürftiger Mensch kann nicht mehr alleine sein. Töchter, Söhne, Enkel aber haben keine Zeit, die Betreuung zu übernehmen, weil sie arbeiten müssen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Frauen aus Polen, Bulgarien oder Rumänien arbeiten illegal, weil es für sie einfacher ist und sie die Sozialabgaben sparen wollen. In welches System der Ausbeutung sie geraten, realisieren sie oft erst spät, weil unseriöse Vermittlungsagenturen ihnen die Aufgabe anders schildern als sie ist.

Das Problem ist seit Jahren bekannt

In Deutschland werden die Menschen immer älter, der Bedarf an Betreuung und Pflege wächst. Die Politik muss den Rahmen schaffen, das tut sie aber nicht, und das ist vielleicht das noch größere Problem.

Seit Jahren sind die illegalen Arbeitsverhältnisse bekannt. Kürzlich haben Bundestag und Bundesrat wieder eine Pflegereform verabschiedet, ohne dass sich in diesem Bereich etwas verändert. Laut Caritas-Präsident Peter Neher habe das Gesundheitsministerium in einem Entwurf Anreize für Pflegebedürftige und deren Angehörige vorgesehen, damit sie den legalen Weg gehen können. Umgesetzt wurde er nicht.

Politik hat völlig versagt

Nun schieben sich Arbeitsminister Hubertus Heil und Gesundheitsminister Jens Spahn gegenseitig die Schuld zu. Das ist ein völliges Versagen der Politik. Denn das Pflegesystem kommt hierzulande ohne die Arbeitskräfte aus Osteuropa nicht mehr aus. Weder gibt es Hundertausende freie Plätze in Heimen, noch die Pflegekräfte, die sich dort um die alten Menschen kümmern könnten.

Die nächste Regierung muss deshalb die Pflegeversicherung umgestalten. Und zwar so, dass mit ihr auch die im Haushalt lebenden Betreuungskräfte zumindest teilfinanziert werden können und für alle Beteiligten Rechtssicherheit besteht. Vielleicht hilft vor der Bundestagswahl ein Blick in die Programme der Parteien, ob und was sie zu diesem Thema sagen...