von Claudio Murmann
Freitag, 13 Uhr, Stuttgart Hauptbahnhof. Josef Bahle steht am U-Bahnsteig und hält Ausschau. Durchsagen, Menschenmassen, eine Bahn fährt ein. „Da vorne ist sie“, sagt er und läuft los.
In der Menge aussteigender Fahrgäste erkennt er Olivia Möller. Schwer bepackt mit einem großen Rucksack, in der Hand ein Blindenstock. Josef begrüßt sie herzlich, sie hakt sich bei ihm ein und los geht’s – von den U-Bahnen im Tiefbahnhof hoch bis zu den Gleisen, wo die Regionalbahn Richtung Ulm schon wartet.
Olivia Möller ist blind. Die 21-Jährige wurde mit der Augenkrankheit Retinitis Pigmentosa geboren. „Da hat man einen Tunnelblick. Das Sehen ist stark eingeschränkt“, erklärt sie.
Vor drei Jahren ist sie vollständig erblindet. Innerhalb weniger Tage verschlechterte sich ihre Sicht, bis sie plötzlich ganz weg war. Damals ein Schock. Heute blickt sie gelassen zurück. Sie wurde schon ihr ganzes Leben von ihren Ärzten darauf vorbereitet, dass sie jederzeit erblinden könnte. Inzwischen ist sie froh, dass diese Ungewissheit vorbei ist.
Mittlerweile macht Olivia eine Ausbildung bei der Nikolauspflege, einer Einrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen. Täglich ist sie mit Bus und Bahn unterwegs. Meistens klappt das sehr gut – auch ohne Begleitung. „Am Bahnhof muss ich mich sehr konzentrieren“, sagt sie. Bei Durchsagen hört sie genau hin. Ihre Stationen kennt sie auswendig.
An vielen Bahnhöfen gibt es mittlerweile Orientierungshilfen: An vielen Treppengeländern steht beispielsweise in Blindenschriften, welches Gleis wo ist.
Außerdem gibt es am Boden ein Leitsystem aus Rillen und Noppen. Mit ihrem Blindenstock folgt Olivia den Linien. „Die glatten Leitstreifen signalisieren mir, dass ich hier ohne Barriere laufen kann“, erklärt sie. Die Noppen warnen sie vor Treppen oder Bahnsteigkanten.
Am Bahnsteig sollten sie zusätzlich die Stellen markieren, an denen sich die Türen der einfahrenden Züge öffnen. „Die Deutsche Bahn hält sich da aber nie dran“, sagt Olivia. Das ist aber nicht das einzige Problem, das ihr an Bahnhöfen begegnet.
Das Anliegen: Mehr Mobilität für alle. Dafür ist Josef Bahle seit über zehn Jahren im Einsatz. Wie rund 50 andere Ehrenamtliche der Bahnhofsmission Stuttgart will der 74-Jährige etwas zurückgeben. „Ich habe einen Bericht im Fernsehen zur Bahnhofsmission gesehen. Mir war sofort klar: Genau das ist es.“
Josef begleitet nicht nur Reisende zum Zug: Er läuft Streife, gibt Auskunft, schenkt heiße Getränke aus und verteilt im Sommer Trinkwasser an durstige Passagiere. Am Ende einer sechsstündigen Schicht zeigt der Schrittzähler gerne 20.000 Schritte oder mehr.
Auch im Bürocontainer, dem Übergangsquartier der Bahnhofsmission während der Bauphase, gibt es viel zu tun. „Die Gäste wollen etwas zu trinken, was zu essen, oder auch trockene Kleidung.“
Andere möchten sich in den klimatisierten Räumen ausruhen – oder brauchen jemanden zum Reden. Viele der Gäste sind einsam, vermutet Josef. „Dann höre ich zu. Das tut der Person gut.“ In sozialen Notfällen helfen die Hauptamtlichen weiter – vermitteln beispielsweise an Suchtberatungen oder Notunterkünfte.