Soziales

Barrierefreie Mobilität: Wie Olivia den Zug findet, obwohl sie nichts sieht

Die 21-jährige Olivia trägt dunkelrote Jacke und einen Rucksack. Sie hakt sich bei Josef ein. Der 74- Jährige trägt eine blaue Weste mit dem Logo der Bahnhofsmission
Jan Hanicz
Olivia nimmt die Hilfe der Bahnhofsmission gerne in Anspruch.

Gleiswechsel, Verspätungen, Zugausfälle – Bahnfahren ist oft Chaos pur. Für blinde Menschen ist es noch kniffliger. Ehrenamtliche der Bahnhofsmission helfen Barrieren abzubauen.

von Claudio Murmann

Freitag, 13 Uhr, Stuttgart Hauptbahnhof. Josef Bahle steht am U-Bahnsteig und hält Ausschau. Durchsagen, Menschenmassen, eine Bahn fährt ein. „Da vorne ist sie“, sagt er und läuft los.

In der Menge aussteigender Fahrgäste erkennt er Olivia Möller. Schwer bepackt mit einem großen Rucksack, in der Hand ein Blindenstock. Josef begrüßt sie herzlich, sie hakt sich bei ihm ein und los geht’svon den U-Bahnen im Tiefbahnhof hoch bis zu den Gleisen, wo die Regionalbahn Richtung Ulm schon wartet.

Von Geburt an sehbehindert, seit Kurzem blind

Olivia Möller ist blind. Die 21-Jährige wurde mit der Augenkrankheit Retinitis Pigmentosa geboren. „Da hat man einen Tunnelblick. Das Sehen ist stark eingeschränkt“, erklärt sie.

Vor drei Jahren ist sie vollständig erblindet. Innerhalb weniger Tage verschlechterte sich ihre Sicht, bis sie plötzlich ganz weg war. Damals ein Schock. Heute blickt sie gelassen zurück. Sie wurde schon ihr ganzes Leben von ihren Ärzten darauf vorbereitet, dass sie jederzeit erblinden könnte. Inzwischen ist sie froh, dass diese Ungewissheit vorbei ist.

Mittlerweile macht Olivia eine Ausbildung bei der Nikolauspflege, einer Einrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen. Täglich ist sie mit Bus und Bahn unterwegs. Meistens klappt das sehr gut – auch ohne Begleitung. „Am Bahnhof muss ich mich sehr konzentrieren“, sagt sie. Bei Durchsagen hört sie genau hin. Ihre Stationen kennt sie auswendig.

An vielen Bahnhöfen gibt es mittlerweile Orientierungshilfen: An vielen Treppengeländern steht beispielsweise in Blindenschriften, welches Gleis wo ist.

Die 23-Jährige Olivia Möller trägt eine dunkelrote Jacke und läuft mit ihrem Blindenstock durch den Stuttgarter Hauptbahnhof.
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Leitsystem hilft – solange niemand im Weg steht

Außerdem gibt es am Boden ein Leitsystem aus Rillen und Noppen. Mit ihrem Blindenstock folgt Olivia den Linien. „Die glatten Leitstreifen signalisieren mir, dass ich hier ohne Barriere laufen kann“, erklärt sie. Die Noppen warnen sie vor Treppen oder Bahnsteigkanten.

Am Bahnsteig sollten sie zusätzlich die Stellen markieren, an denen sich die Türen der einfahrenden Züge öffnen. „Die Deutsche Bahn hält sich da aber nie dran“, sagt Olivia. Das ist aber nicht das einzige Problem, das ihr an Bahnhöfen begegnet.

Barrierefreiheit Mobilität: Viel Luft nach oben

Ein Mann in einer blauen Weste, auf der das Logo der Bahnhofmission zu  sehen ist, begleitet eine blinde junge Frau, die einen türkisfarbenen Rucksack trägt zum Bahnsteig. Die blinde Frau ist bei dem Ehrenamtlichen eingehakt. Sie sind von hinten zu sehen, wie sie zum richtigen Gleis gehen.
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„Auf dem Leitsystem stehen oder laufen Leute“, erklärt Olivia. „Die stehen im Weg“, benennt sie das Problem. 

Die Hilfsmittel (markierten Geländer und Leitsysteme) sind nicht flächendeckend verfügbar. Am Stuttgarter Hauptbahnhof fehlen sie an vielen Stellen - auch wegen der Baustellen. Auf Nachfrage erklärt die Deutsche Bahn: „Wir kümmern uns darum. Normalerweise sollten die Markierungen bei allen Bahnsteigzugängen vorhanden sein.“ Die Bahnhofsmission hilft dort Menschen mit eingeschränkter Mobilität.

Ehrenamt Bahnhofsmission: Hilfe, wo Systeme fehlen

Das Anliegen: Mehr Mobilität für alle. Dafür ist Josef Bahle seit über zehn Jahren im Einsatz. Wie rund 50 andere Ehrenamtliche der Bahnhofsmission Stuttgart will der 74-Jährige etwas zurückgeben. „Ich habe einen Bericht im Fernsehen zur Bahnhofsmission gesehen. Mir war sofort klar: Genau das ist es.“

Josef begleitet nicht nur Reisende zum Zug: Er läuft Streife, gibt Auskunft, schenkt heiße Getränke aus und verteilt im Sommer Trinkwasser an durstige Passagiere. Am Ende einer sechsstündigen Schicht zeigt der Schrittzähler gerne 20.000 Schritte oder mehr.

Essen, reden, ausruhen

Auch im Bürocontainer, dem Übergangsquartier der Bahnhofsmission während der Bauphase, gibt es viel zu tun. „Die Gäste wollen etwas zu trinken, was zu essen, oder auch trockene Kleidung.“

Andere möchten sich in den klimatisierten Räumen ausruhen – oder brauchen jemanden zum Reden. Viele der Gäste sind einsam, vermutet Josef. „Dann höre ich zu. Das tut der Person gut.“ In sozialen Notfällen helfen die Hauptamtlichen weiter – vermitteln beispielsweise an Suchtberatungen oder Notunterkünfte.

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Die Bahnhofsmission mobil

Die Arbeit der Bahnhofsmission verfolgt ein klares Ziel: Menschen stärken. Das gilt auch für das Mobilitätsprojekt „Bahnhofsmission mobil“. Dabei endet die Begleitung durch die Bahnhofsmission nicht am Gleis, sondern geht im Zug weiter: Die Ehrenamtlichen fahren mit bis zum Zielbahnhof und treten erst dort die Rückreise an. Das Angebot richtet sich an Menschen, die sich lange Bahnfahrten alleine nicht zutrauen. „Überwiegend begleiten wir Kinder aus Scheidungsfamilien“, sagt Josef. „Die fahren übers Wochenende zum Papa und am Sonntag zurück zur Mama.“ Bis zu zwölf Stunden ist Josef mit Hin- und Rückfahrt dafür unterwegs. „Voraussetzung ist, dass man gerne Zug fährt“, erklärt er mit Augenzwinkern.

Josef nimmt die Fahrten aber nicht nur fürs Bahnfahren auf sich. Besonders berührend war für ihn eine Begegnung mit einem Mann Mitte 60, der eine geistige Behinderung hatte. Josef begleitete ihn mit der Bahn bis zu seinem Zielbahnhof, wo bereits dessen Mutter – eine über 90-jährige Frau – auf ihren Sohn wartete.

Das Lächeln in ihren Gesichtern war so rührend. Das war das Schönste an der ganzen Fahrt.

In solchen Momenten wisse Josef, warum sich sein ehrenamtliches Engagement lohnt.

Ziel: Mobilität ohne Begleitung

Das Ziel: Menschen darin stärken, eigenständiger unterwegs zu sein. Bei Olivia klappt das: Früher wurde sie bei ihren Bahnfahrten Richtung Ulm begleitet. Sie fühlte sich nicht selbstbewusst genug, um die Reise allein anzutreten, sagt sie.

Heute schafft sie das allein. Sie kennt die Abläufe, kann sich orientieren – und ist stolz auf sich. „Ich klopfe mir am Ende des Tages selber auf die Schulter.“ 

Die blinde Olivia hat eine dunkelrote Jacke an. Sie ist am Bahnsteig und blickt zuversichtlich in die Gegend. Sie ist vom Kopf bis zur Hüfte in einer halbnahen Einstellung zu sehen
Jan Hanicz

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