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Erinnerungen

Das Poesiealbum: Eine evangelische Erfindung

Aufnahme einer entspannten jungen Frau, die während des angenehmen Morgens in einem gemütlichen Zuhause ein Tagebuch schreibt.
gettyimages/Pyrosky

Welche Erinnerungen verbindest du mit deinem Poesiealbum? Wir teilen mit die kuriose Geschichten rund um das Poesiealbum.

Ich kenne meinen heutigen Ehemann schon seit der Grundschule. Böse Zungen behaupten, ich habe wirklich alles getan, um meinen Holger davon abzuhalten, mich zu heiraten. Und zwar schon damals.

Schüchtern hat er mir sein Poesiealbum unter die Nase gehalten. Ob ich vielleicht was Nettes reinschreiben möchte. Klar, wollte ich das: „Sehr geehrtes Trampeltier…“ habe ich meine Zeilen begonnen. Und geendet habe ich mit: „Schick mir bitte ein Photo von Dir, das häng ich an die Kellertür damit Dich alle Mäuse sehn und nicht an die Kartoffeln gehn.“

Auf der Seite steht: Sehr geehrtes Trampeltier! Wegen Dir, Du alte Schraube muß ich kaufen Schreibpapier. Tinte muß ich auch verschwenden, nur um Dir diesen Spruch zu senden. Schicke mir bitte ein Photo von Dir, das häng ich an die Kellertür, damit Dich alle Mäuse sehn und nicht mehr an die Kartoffeln gehn. Dies schrieb Dir Stefanie Bock.
privat/Stefanie Bock
Ungehobelte Zeilen für den künftigen Ehemann Holger.

Seine Mutter fand den Spruch gar nicht witzig. Geheiratet hat mich Holger trotzdem Jahre später. Auch seine Mutter hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Versichert sie mir zumindest immer wieder.

Text: Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu andrer Glück. Denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.
privat/Stefanie Bock
Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu andrer Glück. Denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.

Sprüche aus dem Poesie-Album

Welchen Spruch hast du in deinem Poesie-Album stehen, der dich heute noch begleitet? Schreib uns deine Erfahrungen via Social-Media auf: 

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Vielleicht hast du auch noch ein Poesiealbum? Welche Geschichten liegen darin verborgen?

Poesiealben als wichtige Kindheitserinnerungen

So wie uns, geht es vielen Menschen: Sie verbinden Erinnerungen mit ihrem Poesiealbum. Stefan Walter, Soziologe an der Universität Oldenburg, weiß, welch immense Bedeutung die Alben für Menschen haben. Er liest professionell Poesiealben. So kann er von den Einträgen auf die Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit schließen.

Poesiealben sind ein Schatz, den die meisten Menschen ihr Leben lang hüten. Die Alben bergen Erinnerungen an Schulfreund:innen, Lehrer:innen, Eltern und Großeltern. Wer Jahrzehnte später durch die Seiten blättert, amüsiert sich über die ungewohnt klingenden Sprüchlein.

Unromantischer Spruch fürs Poesiealbum

Unser Kollege Wolfgang hat nicht nur gute Erinnerungen an seinen Spruch: „Wegen eines Poesiealbums musste ich sogar mal zur Strafe in der Ecke stehen“, erzählt er und kann dabei sein Schmunzeln nicht verbergen.

Eine Klassenkameradin habe ihm lächelnd ihr Poesiealbum gereicht und ihn gebeten, hineinzuschreiben. Er sei allerdings wenig begeistert gewesen von der Bitte. Und auch von der jungen Dame. Also schrieb er folgende wenig romantische Zeilen: „Dass Du mich liebst, das weiß ich – Auf Deine Liebe scheint der Mond.“

Prompt sei das Mädchen in Tränen ausgebrochen und habe sich bei der Lehrerin über seine Herzlosigkeit beschwert. Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten.

Poesiesprüche sind Zeugnisse der geltenden Normen

Stefan Walter erklärt, dass jede Zeit ihre eigenen Sprüche fürs Poesiealbum hat. Waren in den 1960er Jahren beispielsweise noch Charakterbildung und Sittlichkeit wichtige Punkte, so finden sich in den 1980er Jahren vor allem Sprüche rund um Freundschaften.

Text: Zum Andenken: So viel Dorn ein Rosenstock, so viel Haar ein Ziegenbock, so viel Groschen in der Tasche, so viel Tropfen in der Flasche, so viel Flöh ein Schäferhund, so viel Jahr, liebe Stefanie, bleibt du gesund. Dies schrieb dir Sabrina
privat/Stefanie Bock
Ein Eintrag aus dem Poesie-Album von Stefanie Bock

„Da zeigt sich deutlich die Individualisierung der Gesellschaft“, sagt Stefan Walter. Gab es ursprünglich eine „strenge Gestaltung der Einträge“, so löste sie sich langsam auf. 

Erfinder des Poesiealbums: Die Protestanten

Mini-Geschichte zur Reformation

Du erinnerst dich nur noch ganz dunkel an die Gecshichte von Martin Luther und der Reformation? Dann hier entlang 🔽

Reformation kurz erklärt - mit dem Playmobil-Luther

Poesiealben haben eine jahrhundertelange Tradition. Einen Vorläufer des Poesiealbums gab es bereits im 16. Jahrhundert: das „album amicorum“. Das war die lateinische Bezeichnung für die frühe Form des Poesiealbums beziehungsweise des Freundschaftsbuches. Eine weitere Bezeichnung ist das „Stammbuch“. Die Idee entsprang bei den Reformatoren in Wittenberg, von wo aus die Reformation 1517 mit ihren Ausgang nahm.

Führende Köpfe vor Ort waren Martin Luther und Philipp Melanchthon. In dieses kleine Stammbüchlein erbaten sich junge Studierende von den Reformatoren kurze Einträge.

Poesiealben waren anfangs an Unis Trend

Eintrag aus dem Poesiealbum: Mach Deinem Vater keine Sorgen, mach Deiner Mutter keinen Schmerz, denn Du weißt nicht ob schon Morgen, Dir entschläft ein Mutterherz.
privat/Stefanie Bock
Eintrag aus dem Poesiealbum: Mach Deinem Vater keine Sorgen, mach Deiner Mutter keinen Schmerz, denn Du weißt nicht ob schon Morgen, Dir entschläft ein Mutterherz.

Bis Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Alben an allen Universitäten bekannt. Auch in anderen europäischen Ländern. Herumgereicht wurde es unter Studenten aus höheren Kreisen.

Was auch daran lag, dass die Sprüche anfangs auf Latein verfasst wurden, erklärt Stefan Walter. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts setze sich Deutsch als Schriftsprachen in den Büchlein durch.

Poesiealbum vor allem in Deutschland beliebt

„Das bewirkte einen großen Schub“, sagt Walter. Damit öffneten sich die Poesiealben für weniger gebildete Schichten. Frauen entdeckten das Album für sich.

Im 20. Jahrhundert schließlich wird das Poesiealbum bei Jugendlichen und Kindern beliebt. Doch keiner liebt sein Posiealbum so sehr wie wir Deutschen.

Eintrag: Stark, wenn es gilt sich selbst bezwingen; Schnell, wenn es gilt ein Opfer bringen; Treu, wenn es gilt, der Freundschaft leben; Mild, wenn es gilt, dem Feind vergeben. Zur Erinnerung an die Schulzeit.
privat/Stefanie Bock
Stark, wenn es gilt sich selbst bezwingen; Schnell, wenn es gilt ein Opfer bringen; Treu, wenn es gilt, der Freundschaft leben; Mild, wenn es gilt, dem Feind vergeben. Zur Erinnerung an die Schulzeit.

Klassische Sprüche fürs Poesie-Album

Aber nicht nur den Soziologen Stefan Walter können die alten Sprüche begeistert. Manche der klassischen Poesie-Sprüche klingen nach vielen Jahren zwar ungewohnt, aber vertraut. Kleine Kostprobe?

Liebe Leute groß und klein, haltet mir mein Album rein. Reißet keine Blätter aus – sonst ist die Freundschaft mit uns aus!

Dieses Sprüchlein markiert millionenfach den Anfang eines Poesiealbum. Besonders beliebt auch 🔽:

Bis die Flüsse aufwärts fließen, bis die Hasen Jäger schießen, bis die Mäuse Katzen fressen, solang werd ich dich nicht vergessen!

Typisch ist auch dieser Spruch: 

In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken.

Sprüche im Poesiealbum meist individuell

Aber wenn du denkst, dass in den Alben die immer gleichen Sprüche stehen, dann irrst du. Stefan Walter hat für seine Dissertation rund 2.800 Albumeinträge ausgewertet. Dabei hat er etwa 1.400 unterschiedliche Sprüche endtdeckt. Rund 70 Prozent der Sprüche kommen nur einmal vor.

„Es gibt eine extrem große Vielfalt an Sprüchen.“ Dass wir das Gefühl haben, einen Spruch zu kennen, liege daran, dass viele sich im Stil und in der Verwendung der Metapher ähnelten.

Rosen, Vergiss mein nicht, denk an mich: Das  taucht immer wieder auf. Aber immer ein bisschen anders.

Auch der Lehrer muss sich ins Poesiealbum eintragen

Ein Rosenstrauß, eingeklebt in ein Poesie-Album
privat/Stefanie Bock
Ein Rosenstrauß, eingeklebt in ein Poesie-Album

Meine Kollegin Marion kann sich noch gut erinnern, wie stolz sie auf jeden Eintrag in ihrem Poesiealbum war. Von Freundin zu Freundin hat sie das Büchlein weitergereicht. Nur ihren Lehrer zu bitten, ein paar Zeilen hinzuschreiben, hat sich sich lange nicht getraut.

Für die Achtjährige war der hochgewachsene, junge Lehrer eine imposante Erscheinung, zumal er der einzige Mann an der gesamten Schule in Frankfurt war. „Kurz vor Ende der 4. Klasse habe ich mir ein Herz gefasst und ihm das Buch in die Hand gedrückt“, erinnert sich Marion.

Die Tage vergingen, die Ferien rückten näher. Doch das Poesiealbum blieb in der Tasche des Lehrers. Für immer. Das wurmt sie bis heute: „Ich habe mich nie getraut, ihn nach dem Poesiealbum zu fragen und nach den Ferien haben wir uns nicht mehr gesehen. Vergessen habe ich es nie - und das ist rund 50 Jahre her“, sagt sie lachend.

Religiöse Sprüche & Frommes für das Poesie-Album

Poesie-Album-Seite mit Stickern von Garfield und dem Schriftzug Stefanie
privat/Stefanie Bock
Von der Ernsthaftigkeit der frühen Jahre ist mittlerweile nichts mehr zu erkennen. Auch die strenge Ordnung ist dahin.

Nach und nach machen bei den Einträgen die Ernsthaftigkeit dem Witz Platz. Insgesamt treten die allgemeinen Werte in den Hintergrund.

Stefan Walter untersucht auch Alben, die während des 1. Weltkriegs entstanden: „Die Sprüche in dieser Zeit sind sehr religiös.“

Der Soziologe hat noch eine Erkenntnis: Insgesamt werden religiöse Sprüche zu allen Zeiten überwiegend von Familienmitgliedern geschrieben. Freundinnen und Freunde haben meist andere Themen. Und: je jünger die Epoche ist, desto weniger religiöse Sprüche gibt es.