Soziales

Für Flüchtlinge oft letzte Hoffnung vor der Abschiebung

Flüchtlingsberaterin Judith Desoi steht im Grünen. In der Hand hält sie das Buch zum Ausländerrecht.
Aaron Kniese

Judith Desoi kämpft für Geflüchtete. Sie erklärt, wie wir von einer Willkommenskultur zu einer „Good-Bye-Struktur“ gekommen sind.

Wenn sich Geflüchtete an Judith Desoi wenden, muss es schnell gehen – oft droht eine unmittelbare Abschiebung. Sie leitet die regionale unabhängige Flüchtlingsberatung der Diakonie im Hochtaunuskreis. Im Interview spricht sie darüber, warum ihre Arbeit für viele Menschen existenziell ist, wie sich die gesellschaftliche Stimmung gewandelt hat – und weshalb wir uns „laut und mutig“ für Geflüchtete einsetzen sollten.

Die einzige Beratungsstelle bei drohender Abschiebung

Was ist die regionale unabhängige Flüchtlingsberatung?

Judith Desoi: Wir sind die einzige Anlaufstelle, an die sich Menschen im Asylverfahren wenden können. Sie berät sie hinsichtlich Bleiberechtsoptionen durch (Aus-)Bildung und Arbeit und unterstützt die Schutzsuchenden bei der Wahrnehmung ihrer Rechte.

Die Beratungsstelle setzt sich also für die Zielgruppe der Geflüchteten ein, der sich sonst keiner annimmt, obwohl diese Menschen dem System schutzlos ausgeliefert sind. Sie haben den prekärsten, unsichersten „Aufenthalt“ in Deutschland und sind immer der Gefahr ausgesetzt, abgeschoben zu werden.

Unabhängige Flüchtlingsberatung

Die regional unabhängige Flüchtlingsberatung unterstützt Geflüchtete dabei, sich gegen Fehlentscheidungen oder Untätigkeit der Behörden zu wehren und sich für ihre Rechte einzusetzen.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) finanziert die Arbeit der Flüchtlingsberatung. Die Synode hat 2024 beschlossen, dass die Arbeit von Judith Desoi bis 2030 fortgesetzt werden kann - allerdings mit weniger Geld als vorher.

Können Sie das vielleicht an einem Beispiel deutlich machen?

Judith Desoi: Ein Mann aus Guinea wurde in seinem Heimatland so massiv gefoltert und sexuell missbraucht, dass er hier in Deutschland aufgrund der Folter vier Mal operiert werden musste. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat ihm dennoch nicht geglaubt und damit ist er der Gefahr ausgesetzt, in das Land seiner Peiniger abgeschoben zu werden.

Diese Menschen zu unterstützen, ist die Aufgabe der regionalen unabhängigen Flüchtlingsberatung.

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Rechtsruck beeinflusst Asylentscheidungen

Wie hat sich ihr Berufsalltag und damit die Anliegen der Menschen in den vergangenen Jahren gewandelt?

Judith Desoi: Vor ein paar Jahren lag das Augenmerk darauf, unter anderem den Menschen Optionen aufzuzeigen, welche Bleiberechtsmöglichkeiten sie in Deutschland haben und welche Voraussetzungen sie dafür erfüllen müssen. Dieser Fokus hat sich jedoch verschoben.

Inwiefern?

Judith Desoi: Der immer weiter zunehmende Rechtsruck in der Politik und Gesellschaft wirkt sich unmittelbar auf die behördlichen Entscheidungen aus. Menschen, die eigentlich in Deutschland bleiben dürfen, einen Bleiberechtsanspruch haben, bekommen dieses Recht verwehrt.  

Erfolgreich integriert – und trotzdem nicht sicher

Welche Folgen haben die behördlichen Entscheidungen beispielsweise?

Judith Desoi: Ein junger Mann aus Guinea, der nie einen Deutschkurs besuchen durfte und sich von Sekunde eins in Deutschland selbst die Sprache beigebracht hat, eine Ausbildung im Gastgewerbe erfolgreich absolviert - und direkt eine Festanstellung als Teamleiter seitens seines Arbeitgebers erhalten hat - dieser Mann wäre beinahe abgeschoben worden.

Warum das denn?

Judith Desoi: Weil die Ausländerbehörde seinen Antrag auf ein Bleiberecht 6 Monate lang nicht bearbeitet hat und dann - nach dieser langen Wartezeit - seinen Ausweis (Duldung) nicht mehr verlängert hat. Ein Tag später wurde der Abschiebeflug gebucht. Das konnte nur sehr knapp verhindert werden, durch eine Petition und viel Druck auf die Politik durch die Zivilgesellschaft.

Wenn Behörden das Bleiberecht unterlaufen

Das aufgeschlagene Aufenthaltsgesetz. Im Text mit grünem Highlighter markiert: Paragraph 25b: Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration
Aaron Kniese
Die gesetzliche Grundlage über den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland.

Dabei hat der Staat doch Gesetze geschaffen, die gut ausgebildeten und gut integrierten Menschen die Möglichkeit bieten, in Deutschland bleiben zu dürfen…

Judith DesoiRichtig, diese Bleiberechtsmöglichkeiten, werden dann jedoch von den ausführenden Behörden durch die Hintertür ausgehebelt. Sie verweigern die Ausstellung von Duldungspapieren, bearbeiten Anträge auf Aufenthaltserlaubnisse monatelang nicht, oder lehnen Anträge fälschlicherweise ab, obwohl alle Voraussetzungen erfüllt sind.

Betroffene werden erst durch solche behördlichen Handlungen abschiebbar gemacht.

Vom Willkommensgeist zur Ablehnung

Juditz Desoi, eine Frau mit langen rotblonden Haaren. Sie trägt ein rotes Oberteil, roten Lippenstift und sitzt an ihrem Schreibtisch
Aaron Kniese

Vor 10 Jahren wurden Geflüchtete scheinbar mit offenen Armen empfangen – eine Willkommenskultur wurde gelebt. Wie nehmen Sie das wahr?

Judith Desoi: Viele Menschen waren 2015 bereit, Geflüchtete zu unterstützen. Unsere Gesellschaft strahlte Solidarität aus. Allerdings wurde die Flucht der Menschen nach Deutschland seitens der Politik recht schnell dafür instrumentalisiert, politische Gewinne zu erzielen, indem Feindbilder kreiert wurden.

Das verunsichert viele Menschen tief. Das geht so weit, dass Geflüchtete immer weiter ausgrenzt und diskriminiert werden. Von der einstigen Solidarität ist kaum noch etwas zu spüren.

Mehr Abschiebungen

Das Land Hessen fährt seit diesem Jahr einen härteren Kurs bei Abschiebungen von Geflüchteten. Im ersten halben Jahr wurden 1.017 Menschen abgeschoben. Das sind rund 30 Prozent mehr Abschiebungen als im selben Zeitraum im Vorjahr.

Die politische Debatte rund um Migration hat einen schärferen Ton bekommen. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit und Ihre Klienten aus?

Judith DesoiDer Fokus der politischen Debatte liegt auf

  • Abschottung,
  • Ausgrenzung,
  • Diskriminierung und
  • Abschiebungen.

Das spüren die geflüchteten Menschen deutlich und unmittelbar.

Menschen, die zusammen mit ihren Kindern schon tief in Deutschland verwurzelt sind, die mich fragen, ob die Kinder woanders schlafen können, ob sie dann keine Angst mehr haben müssten. Oder Menschen, die in Deutschland arbeiten, die eine Ausbildung abgeschlossen haben, die mir sagen: „Wir wissen, dass wir die Ersten sein werden, die abgeschoben werden, da dies für die Behörden am leichtesten ist, da wir jeden Tag an unserem Arbeitsplatz zu finden sind.“

Beratung am Limit: Jede Sekunde zählt

Das wirkt sich also auch auf Ihre Beratungsstelle aus…

Judith Desoi: Menschen sind so verzweifelt, dass sie mich kontinuierlich anrufen, E-Mails schreiben und stundenlang vor der Beratungsstelle stehen, in der Hoffnung, dass ich doch noch einen Termin freihabe. Oft zählt jede Sekunde. Einen Menschen auf den nächsten Beratungstag zu vertrösten, kann bedeuten, dass dieser Mensch am nächsten Tag nicht mehr da ist.

Das auszuhalten - unabhängig davon, welchen professionellen Anspruch ich an meine Arbeit habe – ist nicht leicht. Denn ich bin auch nur ein Mensch und sehe die Menschen und jedes Einzelschicksal dahinter.

Das auszuhalten ist nicht leicht!

Warum persönliche Geschichten Gehör finden müssen

2015 haben viele Ehrenamtliche in Flüchtlingsunterkünften geholfen oder den Geflüchteten Deutsch beigebracht. Wie kann ich heute geflüchtete Menschen unterstützen?

Judith Desoi: In der aktuellen politischen Debatte werden die Stimmen, die sich zu Flüchtlings- und Menschenrechten bekennen, seltener und leiser. Umso wichtiger ist es, dass sich die Zivilgesellschaft und das Ehrenamt mutig und laut für die schutzsuchenden Menschen einsetzt und auf die Missstände aufmerksam macht.

Von außen sind die Schutzsuchenden für Politik und Gesellschaft oft nur ein Aktenzeichen, etwas Versachlichtes. Umso wichtiger ist es, dass die Einzelschicksale mit ihrer eigenen persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit getragen werden.

Geflüchtete schützen heißt unsere Demokratie bewahren

Sie setzen Sie sich persönlich jeden Tag mit ihrer Arbeit für die Rechte und Belange von Geflüchteten ein. Was gibt Ihnen diese Arbeit?

Judith DesoiIch würde das gerne mit den Worten eines Filmzitates verdeutlichen, das mich in meinem Leben sehr geprägt hat:

„Niemand entscheidet über den Ort seiner Geburt. Wo wir geboren werden, entscheidet allein das Schicksal. Wir kamen hier auf die Welt, sie kamen dort auf die Welt. Wir sitzen hier auf Stühlen, die den Glücklichen zur Verfügung stehen, aber wir dürfen niemals vergessen, warum dies so ist: SCHICKSAL.“ (aus der Netflix-Serie „Messiah“, Anm. d. Red)

Dieses Glück, was ich habe, möchte ich zurückgeben, indem ich mich auf praktischer, öffentlicher und politischer Ebene für die schutzsuchenden Menschen und für uns als Gesellschaft einsetze. Es handelt sich hier um Menschen, um Individuen mit eigenem Schmerz, Hoffnungen und Träumen, die jeder Einzelne von uns auch hat.

Menschenrechte gelten für jeden Menschen und wenn wir das vergessen, dann vergessen wir uns selbst. Uns sollte bewusst sein, dass wir damit nicht nur Leben gefährden, sondern auch die demokratischen Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen: Würde, Solidarität, Gerechtigkeit und Humanität.