Weltflüchtlingstag

Hilfe für Flüchtlinge: Ginge das ohne Kirche?

Der irakische Arzt Muntander Press Obaid und seine Frau Karolina sind mit ihren Kindern aus der Nähe von Kharkiv in der Ukraine geflüchtet.
epd-bild/Christian Ditsch
Der irakische Arzt Muntander Press Obaid und seine Frau Karolina sind mit ihren Kindern aus der Nähe von Kharkiv in der Ukraine geflüchtet.

120 Millionen Vertriebene: Wieder mehr Menschen weltweit auf der Flucht. Welche Rolle spielt die Kirche in der Flüchtlingsarbeit? Was wäre, wenn es keine Kirche mehr gäbe?

Die Gründe für Flucht sind vielfältig. Die Flucht selbst oft lebensgefährlich. Auf dem Weg zu und bei uns brauchen diese Menschen Schutz und Hilfe. Die Vereinten Nationen schätzen zum Weltflüchtlingstag im Juni 2023, dass aktuell 108 Millionen Menschen wegen Konflikten, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen weltweit auf der Flucht sind. Das bedeutet, etwas mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung ist bei sich zuhause nicht sicher und hat deswegen das Heimatland verlassen.

Wer hilft den Menschen?

Stell dir vor, auch du wärst einer dieser Menschen. Du müsstest dein Heimatland verlassen. Vielleicht viele tausende Kilometer weit zu Fuß gehen, beladen mit allem, was du greifen konntest. Auf der Suche nach Schutz. Vielleicht hast du ein Ziel vor Augen? Dieses Ziel heißt vielleicht Europa, Deutschland, Hessen.

Kirche sieht sich nicht als Fluchthelferin. Aber sie  will auch keine Menschen leiden sehen. Deswegen unterstützt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beispielsweise gemeinsam mit dem Bündnis United4Rescue 2020 den zivilen Seenotretter „Sea-Watch 4“. Sie sieht es als Gebot der christlichen Nächstenliebe, keine Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen

Sea-Watch 4 macht als Humanity 1 weiter

SOS Humanity übernimmt das Seenotrettungsschiff. Unter dem neuen Namen Humanity 1 soll es ab August 2022 zum Einsatz kommen. Dabei soll es weiterhin von United4Rescue unterstützt werden.

Wie sich die EKD an der Rettung im Mittelmeer beteiligt

Vor allem Menschen, die aus nordafrikanischen Ländern oder der Türkei über das Mittelmeer nach Europa fliehen, kommen mit Booten übers Meer. Oft mit Hilfe von sogenannten Schleppernetzwerken. Die Fluchtroute übers Mittelmeer gilt als extrem gefährlicher Fluchtweg. Im Jahr 2021 sind laut der Internationalen Organisation für Migrationüber 2.000  Kinder, Frauen und Männer bei der Flucht gestorben. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher.

Das Rettungsschiff „Sea-Watch 4“ 2020 im Mittelmeer in der Such- und Rettungszone vor Libyen
epd-bild/Thomas Lohnes
Das Rettungsschiff „Sea-Watch 4“ 2020 im Mittelmeer in der Such- und Rettungszone vor Libyen

Ankommen im sicheren Deutschland – wie sieht Flüchtlingshilfe aus?

Du hast also diesen gefährlichen Weg geschafft und bist in Deutschland angekommen. Eigentlich müsstest du in dem Land, in dem du zuerst ankommst deinen Asylantrag stellen (Stichwort „Dublin-Verfahren“): Beispielsweise wenn du zuerst in Italien oder Griechenland ankommst, müsstest du dort um Schutz bitten. Übrigens kann ein Asylverfahren teilweise Jahre dauern. 

Flüchtlingsseelsorge für Menschen ohne Status

Asylsuchende und Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus unterliegen vielen rechtlichen und sozialen Einschränkungen. Oft fühlen sich diese Menschen perspektivlos, unsicher und verängstigt. Deswegen begleiten Flüchtlingsseelsorge sowie kirchliche und diakonische Flüchtlingsberatungsstellen diese Menschen in ihrem Leben.

Aber wir nehmen einfach mal an, dass du in Hessen angekommen bist. Du willst dich hier registrieren. Viele Flüchtlinge kommen zu Beginn in Gemeinschaftsunterkünften unter. Dort triffst du unter anderem auf Mitarbeitende der evangelischen Kirchen.

Dasselbe gilt auch für die Zeit nach der Erstaufnahme in den Kommunen und Landkreisen. Da in Hessen „die unabhängige Flüchtlingsberatung nahezu komplett von den Kirchen finanziert und organisiert wird“, wirst du es also sehr wahrscheinlich mit jemandem aus der Kirche zu tun bekommen.

Der interkulturelle Beauftragte der EKHN in der Diakonie Hessen Andreas Lipsch
epd-bild/Thomas Rohnke
Der interkulturelle Beauftragte der EKHN in der Diakonie Hessen Andreas Lipsch

Andreas Lipsch ist in der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (EKHN) sowie bei der Diakonie Hessen für Flucht, Interkulturelle Arbeit und Migration (FIAM) zuständig. Er erklärt, dass es ohne die Evangelische Kirchen in Hessen so gut wie nirgends Flüchtlingsberatungsstellen gäbe. Das Land Hessen hat diese Arbeit, „von einer kleinen Ausnahme abgesehen“, finanziell nicht unterstützt. Das ist in den meisten anderen Bundesländern anders.

„Gäbe es die Evangelischen Kirchen nicht mehr, gäbe es keine unabhängige Flüchtlingsberatung in Hessen, keine professionellen Ansprechpartner:innen, die sich im schwierigen Asylrecht auskennen und es würde der besondere menschenrechtliche Ansatz der kirchlich-diakonischen Arbeit fehlen“, betont Lipsch.

Hauptamtliche Beratung und Betreuung von Diakonie und Kirche

In der Diakonie Hessen, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) engagieren sich rund 120 Menschen hauptamtlich in der professionellen Beratung von geflüchteten. Rein kirchlich finanziert sind hessenweit zurzeit 35 Vollzeitstellen. Hinzukommen kommen weitere Projektstellen und Honoraraufträge.

Flüchtlingshilfe in Hessen in kirchlicher Hand

Die Beratungsstellen bieten dir professionelle Beratungen rund um das Asyl- und Aufenthaltsrecht an und unterstützen dich unter anderem bei deinem Asylantrag.  Übrigens bekommt diese spezielle „Asylverfahrensberatung“ erst seit 2021 einen Zuschuss vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration (HMSI). „Was aber nicht mal annähernd für eine wirklich flächen- und bedarfsdeckende Beratung reicht“, kritisiert Andreas Lipsch.

Die Kirche bietet auch eigene Unterkünfte für Flüchtlinge an. In der EKHN sind das aktuell mehr als 600 Plätze in Hessen und Rheinland-Pfalz.

Angebote der Evangelischen Kirche für Flüchtlinge

Doch das ist nur ein Teil des kirchlichen Hilfe-Netzes für geflüchtete Menschen. Es gibt unter anderem noch:

  • unabhängige Beratungsstellen in den Regionen, die bei allen aufenthaltsrechtlichen Fragen unterstützen
  • Unterstützung und Therapie für traumatisierte Menschen im Evangelischen Zentrum „Haus am Weißen Stein“ in Frankfurt
  • Flüchtlingsseelsorge in den Abschiebehaftanstalten in Ingelheim und Darmstadt
  • Rechtsberatung in der Abschiebehaftanstalt in Darmstadt
  • eine ökumenisch getragene Abschiebungsbeobachtung am Frankfurter Flughafen
  • und eine (unterschiedlich durch Kommunen und Landkreise finanzierte) soziale Flüchtlingsbetreuung

Wenn du nach Deutschland geflüchtet bist und in Hessen ankommst, wirst du also wahrscheinlich auf die Mitarbeitenden von Kirche oder Diakonie treffen. Manchmal hast du dann Kontakt direkt mit der Kirchengemeinde vor Ort, manchmal steckt Kirche drin, auch ohne dass du es merkst.

Integration geflüchteter Menschen in der Nachbarschaft

Wenn du nicht mehr nach Hause kannst, weil die Situation dort lebensbedrohlich ist, dann musst du dich mit der neuen Heimat arrangieren. Je früher, desto erfolgreicher ist dieser Integrationsprozess. Das ist nicht nur für die geflohenen Menschen komplex.

Die evangelische Kirche fördert die Willkommenskultur vor Ort. Seit 2015 beispielsweise durch hunderte von Projekten in Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisen. Darüber hinaus haben sie Koordinationsstellen für das freiwillige Engagement gefördert, unabhängige Flüchtlingsberatungsstellen in den Regionen sowie die Asylverfahrensberatung in den Erstaufnahmeeinrichtungen finanziert und die Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration (FIAM) der Diakonie Hessen unterstützt.

Insgesamt haben die Evangelischen Kirchen dafür seit 2015 mehr als 27 Millionen Euro bereitgestellt. Aktuell unterstützen sie zusätzlich die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine mit weiteren 1,5 Millionen Euro.

Dossier: Krieg in der Ukraine

2013: Deutschunterricht für geflüchtete Menschen
Charlotte Mattes
2013: Deutschunterricht für geflüchtete Menschen

Was Kirche für Geflüchtete auf die Beine stellt

Zum Beispiel in den regionalen Beratungsstellen von Diakonie und Kirche kannst du nicht nur deine Fragen rund um das Asyl stellen. Die Mitarbeitenden helfen dir auch dabei, wenn es um einen Job, deine Gesundheit oder eine Therapie geht.

Zu den kirchlichen Angeboten für geflüchtete Menschen gehören beispielsweise auch diese hier:

  • Mit Sprachkursen Deutsch lernen
  • Lotsen für Familien
  • Hilfe beim Gang zum Amt
  • Fahrdienste (vor allem auf dem Land): in die Arztpraxis, zur Bank etc.
  • Hilfen bei alltäglichen Dingen
  • Ausstattung mit Nötigem, wie etwa fehlender Kleidung oder Haushaltsgegenständen
  • Hausaufgabenhilfe
  • Hilfe bei der Wohnungssuche
  • Mit potenziellen Arbeitgebern ins Gespräch kommen
  • Angebote der allgemeinen Willkommenskultur, wie etwa Begegnungscafés
  • Kultur-, Freizeit- und Sportangebote

Ehrenamt in der kirchlichen Flüchtlingsarbeit

Bei allen kirchlichen Angeboten helfen Ehrenamtliche mit. Kirche und Diakonie wissen selbst nicht so genau, wie viele Menschen sich ehrenamtlich in der kirchlichen Flüchtlingshilfe engagieren. Die meisten sind vor Ort in ihrer Gemeinde aktiv.

Die kirchlichen Einrichtungen bieten Weiterbildungen an, qualifizieren die Ehrenamtlichen und stellen Informationen zur Verfügung. Das ist besonders wichtig, wenn es etwa um rechtliche Fragen geht, oder um ein Trauma.

Hilfe bei finanziellen Notlagen

In Einzelfällen unterstützt die Kirche Flüchtlinge auch finanziell. Beispielsweise um ein Gutachten zum Nachweis einer Traumatisierung zu erhalten.

Bei den rechtlichen Fragen müssen sich die Helfenden beispielsweise ausführlich mit der Situation von Flüchtlingen beschäftigen. Viele Geflüchtete haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und das Vertrauen in öffentliche Stellen verloren. Kirche kann da eine seriöse und vertrauenswürdige Ansprechpartnerin sein und zwischen den Parteien vermitteln.

Manche kirchliche Initiative setzt etwa auf feste Vertrauenspersonen. In diesen Mentoren- oder Tandem-Programmen hast du es als geflüchteter Mensch dann immer mit einer festen Person zu tun. Dabei können viele, die Extremes durchgemacht haben, besser Vertrauen entwickeln. Für die Helfenden kann dieses Engagement sehr herausfordernd sein.

Hilfe vor Verfolgung: Kirchenasyl

Wenn dein Asylantrag abgelehnt wird, kann es sein, dass du um Kirchenasyl bitten kannst. Kirchengemeinden in Deutschland gewähren abgelehnten Asylbewerber:innen dann Schutz, wenn sie denken, dass es sich bei dir um einen sogenannten Härtefall handelt.

Mit dem Kirchenasyl bitten sie die Behörden um nochmaligen Überprüfung der Entscheidung. Obwohl diese Form der Asylgewährung nicht anerkannt ist, ist sie doch geduldet. Nach Auskunft der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ befinden sich in Deutschland aktuell (Mai 2022) 594 Menschen in 372 Kirchenasylen, davon sind etwa 121 Kinder.

Wer hilft sonst noch Geflüchteten?

Nicht nur in der evangelischen Kirche, auch in der katholischen Kirche und der Caritas gibt es Flüchtlingshilfe. Wohlfahrtsverbände wie das Deutsche Rote Kreuz oder die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sind auch wichtige Partner. In manchen Orten helfen auch Freiwilligenagenturen, Willkommensinitiativen und –bündnisse und je nach Bundesland auch die Flüchtlingsräte.

Du musst wissen, die Hilfe für Geflüchtete ist Ländersache. In Hessen ist 2003 mit dem Sparpaket „Operation Sichere Zukunft" das Geld für die Flüchtlingsarbeit eingespart worden. Deswegen sind die kirchlichen Beratungen hier so wichtig. In Rheinland-Pfalz sieht es in Bezug darauf besser aus.

Spenden für die Flüchtlingshilfe: Diakonie Katastrophenhilfe

Jedes Jahr sind mehr und mehr Menschen auf der Flucht vor Kriegen und Konflikten. Wenn sie in ihren Ländern gute Lebensverhältnisse vorfinden, werden sie weder zu Geflüchteten noch zu Migrant:innen. Deswegen hilft die Diakonie Katastrophenhilfe vor Ort. Die versteht sich als Nothilfe für Geflohene, bietet aber auch Schulbildung oder Katastrophenvorsorge.

Direkt bei der Diakonie Katastrophenhilfe spenden

Warum hilft die Kirche Geflüchteten?

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sieht es als elementare Aufgabe der Christenheit und der Kirchen an, für „verfolgte und gefährdete Menschen einzutreten“. Sie begründet sie in der „Geschichte Gottes mit seinem Volk selbst“: Der Flucht der Israeliten.

Außerdem finde sich der Auftrag Gottes, Fremde aufzunehmen, auch in der Verkündigung Jesus in seiner Rede vom Weltgericht: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,35)

Deshalb versuchen Kirche und Diakonie, diesen Auftrag in ihrer Arbeit umzusetzen, indem sie sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzen und sie vor Ort unterstützen, begleiten und beraten.

#offengeht: Menschen, die in Deutschland bleiben

Mit der Kampagne #offengeht, wollen die christlichen Kirchen in Deutschland auf die Bedeutung von Vielfalt in unserer Gesellschaft verweisen. Höhepunkt ist die Interkulturelle Woche vom 25. September bis 2. Oktober.

Die drei Sprecher:innen der christlichen Kirchen in Deutschland, Bischof Georg Bätzing, Präses Annette Kurschus und Metropolit Augoustinos, warnen vor Spaltung, Hass und Gewalt. „Wo immer Positionen vertreten werden, die ausgrenzen, beleidigen, herabwürdigen und spalten, braucht es Courage, gegenzuhalten – in der Familie, im Beruf, in der Nachbarschaft, im Sport und auch in der eigenen Gemeinde.“ Die Kirchen stünden „solidarisch an der Seite derjenigen, die zur Zielscheibe von verbaler und tätlicher Gewalt werden“.

Sollte Kirche sich in der Flüchtlingshilfe engagieren?

Andreas Lipsch von der FIAM betont, wie wichtig neben der konkreten Arbeit auch das politische Engagement der Kirchen ist. Aktuell gelte es, einer „zunehmenden Ungleichbehandlung von Flüchtlingen entgegenzuwirken“.

Der interkulturelle Beauftragte der EKHN in der Diakonie Hessen Andreas Lipsch
epd-bild/Thomas Rohnke

Es sei „erfreulich“ und „eine gute Entwicklung, dass ukrainischen Geflüchteten dank der Anwendung der Europäischen Richtlinie zum vorübergehenden Schutz und der bestehenden Visafreiheit Grenzen offenstehen“. Er begrüßt, dass „sie einen schnellen Zugang zu Integrationsmaßnahmen, Ausbildung, Arbeit oder Studium bekommen und sozialrechtlich deutschen Staatsbürger:innen weitgehend gleichgestellt“ seien.

Das große Problem besteht nach Andreas Lipsch darin, dass das alles „für andere Flüchtlingsgruppen so nicht gilt“. Er betont: 

Es ist höchste Zeit, eine integrationsfreundliche Politik für alle Flüchtlingsgruppen auf den Weg zu bringen!

Diese Politik solle sich „zuerst an der Menschenwürde und den Menschenrechten orientieren“. Ein solcher Politikwechsel sei auch im Blick auf den immer deutlicher werdenden Fachkräftemangel in Deutschland ein wichtiger Schritt.